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Alt 08.03.2024, 05:15   #1
weiblich Lee Berta
 
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Beiträge: 320


Standard Frank vor der Türe

Eines Tages klopfte es schüchtern an der Türe, die nie abgeschlossen war. Ich ging nachsehen und da stand ein junger Mann, der wie mein Vater aussah, nur jünger. Ohne die brauen Augen hätte ich ihn für einen Zeitreisenden gehalten.
Der dreieckige Schädel, die schmalen Schultern, die hochgewachsene Gestalt.

Wir betrachteten uns einige Sekunden lang, dann fragte er: "Ist der Gert da?"
Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Auf Arbeit bis halb fünf."
Dann schloss ich die Türe wieder, klinkte die Kette aus und öffnete sie weit.
Mein Kassettenrekorder sang high and low.
"A-ha", sagte er, schwieg einige Sekunden lang und starrte abwechselnd auf seine und meine Schuhe. Seine waren braun und aus Wildleder. Meine waren handgestrickt und pinguinförmig. Ein Weihnachtsgeschenk meiner Mutter.
Unsere Blicke wanderten aneinander hoch. Wieder hinunter und wieder hoch.

Er blinzelte einige Male und flüsterte: "Meine Mutter ist vorgestern gestorben. Ich soll ins Heim."
Ich holte tief Luft. "Meine Mutter lebt noch und - wie alt bist du genau?"
"Fünfzehn", sagte er. "Ich heiße Frank."
"Das weiß ich, Frank. Mein Vater und ich haben keine Geheimnisse. Aber mein Vater und meine Mutter haben Geheimnisse. Und ich habe auch noch zwei kleine Geschwister. Birthe und Dörthe. Zwillinge."
Er seufzte leise und murmelte: "Ich weiß, Rieke."
"Es tut mir leid", sagte ich. "Frank. Viel Glück!"
Dann schloss ich die Türe wieder.

Von diesem Moment an und noch viele Jahre bereute ich, dass ich ihn nicht in mein Leben gelassen habe. Aber ich war zwölf, wir Schwestern lebten zu dritt auf acht Quadratmetern und die Ehe meiner Eltern kriselte ohnehin gerade.
Manchmal tut man eben Dinge, die man später bereut.
Lee Berta ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.03.2024, 20:15   #2
männlich lyrikPower
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Beiträge: 38


Hallo Lee,
eine solche Geschichte zu erzählen ist nicht einfach, das Abrutschen in die Sentimentalität droht. Du hast da allerdings souverän das Ende angesteuert – (kleine Einschränkung) bis auf den letzten Absatz. Den würde ich streichen und ihn verknappt an den Anfang setzen: «Damals war ich zwölf Jahre alt, als es passierte.» Daran schließt sich dann der Ablauf der Geschichte übergangslos an. Einen Hinweis auf Wohnungs- und Familiensituation lässt sich im Gespräch mit Frank vor der Türe unterbringen. So müsstest du dich am Ende nicht für das Verhalten der Zwölfjährigen gewissermaßen «entschuldigen». Ein Wort zum Titel deiner Geschnichte: Ein Treffer!
Gruß lP
lyrikPower ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.03.2024, 20:54   #3
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.109


Zitat:
Wir betrachteten uns einige Sekunden lang, dann fragte er: "Ist der Gert da?"
Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Auf Arbeit bis halb fünf."
Dann schloss ich die Türe wieder, klinkte die Kette aus und öffnete sie weit.
Mein Kassettenrekorder sang high and low.
"A-ha", sagte er, schwieg einige Sekunden lang und starrte abwechselnd auf seine und meine Schuhe. Seine waren braun und aus Wildleder. Meine waren handgestrickt und pinguinförmig. Ein Weihnachtsgeschenk meiner Mutter.
Unsere Blicke wanderten aneinander hoch. Wieder hinunter und wieder hoch.
Na, wenn das nicht ein Beispiel ausgefeilter Literatur ist. Kann das jemand besser? Wohlverstanden: besser?
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.03.2024, 20:21   #4
weiblich Lee Berta
 
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Ort: Gehirn!
Beiträge: 320


Hallo lyrikPower

Zitat:
Zitat von lyrikPower Beitrag anzeigen
(...) Den würde ich streichen und ihn verknappt an den Anfang setzen: «Damals war ich zwölf Jahre alt, als es passierte.» Daran schließt sich dann der Ablauf der Geschichte übergangslos an. Einen Hinweis auf Wohnungs- und Familiensituation lässt sich im Gespräch mit Frank vor der Türe unterbringen. So müsstest du dich am Ende nicht für das Verhalten der Zwölfjährigen gewissermaßen «entschuldigen».
Ich glaube, das ist eine gute Idee. Mit dem Schluss bin ich selber unzufrieden. Ich sollte das LI (Rieke) ein bisschen einführen. Beispiel: "Wieder einmal war ich als Älteste der Schwestern damit beauftragt worden, das winzige, chaotiche Kinderzimmer aufzuräumen, während die Kleinen mit meiner Mutter beim Kinderarzt waren. Es war mein dreizehnter Geburtstag, aber weil ich keine Freunde hatte, wunderte es mich sehr, als es an der Tür klopfte."
Das Gespräch könnte vielleicht länger, Frank könnte besser beschrieben werden und das Ende könnte sein, dass die Mutter nach Hause kommt und das LI auf die Frage "War irgendwas?" nur den Kopf schüttelt und weiter aufräumt.

Hallo Ilka-Maria,
mit dem Schreiben ist es wie mit dem Skifahren. Bestimmt kann das jemand besser, aber die meisten können es überhaupt nicht.

Liebe Grüße,
Lee
Lee Berta ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.03.2024, 08:57   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.721


Hallo Lee Berta,

ich finde die Geschichte gut so, wie sie ist. Wirklich ein sehr feines Stück Literatur.

LG DieSilbermöwe
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Alt 20.03.2024, 14:37   #6
männlich dunkler Traum
 
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Beiträge: 1.615


Standard Hallo Lee

... die Halbgeschwister lebten nie zusammen, wussten aber voneinander. Erscheint mir ein gut geschildertes Abbild unserer hochmoralischen bigotten Gesellschaft.
Mich schmerzt nur die Türe, entweder Tür oder Türen bitte.

wsT
dT
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Alt 24.03.2024, 23:28   #7
weiblich Lee Berta
 
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Ort: Gehirn!
Beiträge: 320


Hallo dunkler Traum,
es ist ein Dativ- e. Man kann es aber weg lassen, denn die Geschichte ist zu kurz für Lokalkolorit. Ich hatte einfach Lust auf die "Türe", weil die einfach bei uns so genannt wurde. Sogar im Nominativ. Inzwischen hat mich das auch gestört und ich habe es im Originaltext geändert.

Danke fürs Lesen und Schreiben
Liebe Grüße,
Lee
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