Ein Stück Leben

[Merith]

Du gehst im ersten Birkengrün mit deinem Hund im Park spazieren. Frühlingssonne lockt Schneeglöckchen und Krokusse aus der winterharten Erde und vielleicht trinkst du deinen ersten Capo im Freien.
Im Sommer wanderst du zum Gipfel deines Hausbergs oder lümmelst im Liegestuhl eures Gartens. siehst den Wolken nach und bist froh, dass du kein Fernweh mehr hast. Du siehst deine Frau durch den Garten kommen, zwei Teller mit frischem Apfelkuchen balancierend. Immer noch strahlt sie eine gewisse unbekümmerte Jugendlichkeit aus, die das Leben mit ihr so angenehm macht. Am liebsten würdest du jetzt mit ihr ins Bett gehen, aber während eurer langen gemeinsamen Ehejahre hast du gelernt, mit ihrer liebenswerten Sprödheit umzugehen.
Im Herbst sammelst du Kastanien mit deinen Enkelkindern und bastelst Holzmännchen für den Kindegarten, später begleichst du die Rechnungen für Zahnspangen und übernimmst die Kosten für Nachhilfestunden in Latein und Physik. Dafür schenken sie dir an Weihnachten eine Grusel-CD von John Sinclair und hoffen darauf, dass du dich fürchtest.
Deine Tochter heiratet und bittet dich, sie zum Altar zu begleiten; du bist überrascht, da sie sich gerne progressiv gibt. Aber du lässt dir nicht anmerken, wie sehr dich ihr Ansinnen rührt und kämpfst während der Trauung beinahe verbissen mit den aufsteigenden Tränen.
Jahre später wirst du schwer krank, , aber du erholst dich, steigst wie Phönix aus der Asche.
Deine Mutter stirbt; wenn du ihr ein aufmerksamer Sohn warst, wirst du ihre Lieblingsblumen auf den Grabhügel legen, warst du ihr nur nachlässig zugetan, kannst du ihrem Verzeihen sicher sein. Mütter verzeihen immer und alles.
Die Sonne macht sich rar, es wird kühl, du freust dich auf den Abend, hast zum zweiten Mal mit dem Glasperlenspiel begonnen.
"Gehen wir hinein ?" Deine Frau nickt, reicht dir ihre Hand, um dir aus dem Liegestuhl zu helfen. Routine beinahe seit der Bandscheibenoperation im letzten Jahr.
Sie räumt Teller und Kuchengabeln zusammen und du pfeifst dem Hund zum abendlichen Spaziergang durch den Stadtpark.

Merith

(inspiriert von Twiddys "Deine Hand").

[Twiddyfix]

Liebe Merith,

(bist Du ein Spanner???)

Genauso verläuft mein Leben, genauso.

Liege im Liegestuhl und schau meiner Frau lüstern hinterher, sie braucht nicht wegzulaufen, denn seit meiner Knie-OP komme ich nicht mehr allein aus diesen verflixten Stuhl.... sehr gut beobachtet.

Ich danke Dir für diesen kleinen Einblick ins Leben...

noch einen schönen Sonntagnachmittag mit Apfelkuchen

lieben Gruß vom Twiddy...

[Merith]

Ach lieber Twiddy, nein ich bin keine Spannerin, ich habe nur auch schon einige Jahre Lebenserfahrung auf dem Buckel, davon 44 Ehejahre, bis zum Tod meines Mannes.
Genieße den Frühling, den Liegestuhl und sei dankbar für die Hand, die dir aus dem Liegestuhl hilft - und bleib gesund !

Herzlichen Gruß
Merith

[Twiddyfix]

ach Merith,
es ist immer wieder schön mit Dir zu Plaudern.
Ja, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat,
bleiben die Tiefschläge nicht aus.
Die Narben der vielen Lebensjahre sind sichtbar,
aber die Narben auf der Seele
bleiben meist unentdeckt.

Was sagt uns das?
Menschen sind meist gute Schauspieler
wenn es darum geht...
sich ins rechte Licht zu stellen.

Nein, das hat nichts mit Dir zu tun,
Du bist eine liebenswerte Userin,
die mir sehr sympatisch ist.

Einen guten Start in die Woche wünscht

Twiddy...

[ganter]

Liebe Merith,

ausdrucksstark! und Dein Schreiben wirkt so authentisch.

Herzlicher Gruß
-ganter-

[Merith]

Lieber ganter,

es freut mich, dass du meine "Geschichte" gelesen hast. In meinem Alter, lieber ganter, hat man vieles in allen möglichen Variationen erlebt und wenn man ehrlich und aufgeschlossen bleibt, bleiben auch die "Geschichten" authentisch.

Lieben Gruß zu dir aus dem Isental bei 18 Grad !

Merith