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Alt 24.08.2009, 00:30   #1
b1rdc4tcher
 
Dabei seit: 08/2009
Alter: 39
Beiträge: 3


Standard Grünling

Als ich den Warteraum betrat und mir einen Platz zwischen den anderen Wartenden suchte, mich setzte und anfing in der “Sport-Bild” herumzublättern, hörte ich das trockene Röcheln, das ihre, vom Husten geplagten Lungen von sich gaben.
Ich schaute, wie die ebenfalls Wartenden, auf.

Da waren zwei Frauen.
Die eine, ungefähr 20 Jahre alt, blonde Haare, Hello Kitty- Shirt.
Die andere war um die 40, brünett und hatte eine Tasche mit einem riesigen Schloss.

Mein eigentliches Interesse aber galt ihr, ihr, die kranke Laute von sich gab.
Sie sah aus wie aus einer anderen Welt.
Nicht von einer, die auf jeden Fünften passt, auf den man dieses Sprichwort sagt.
Sie sah einfach anders aus.

Ihre Haare waren blond, mit einem kleinen Stich ins Rote, wenn die Sonne günstig einfiel.
Und das tat sie in diesem Wartezimmer.
Ihre Augen waren so boshaft Grün, als wären sie kleine Forstkobolde, die sich vor Lachen über die Bilder ihrer Welt ständig krümmten und hin und her bewegten.
Ihr Gesicht war Porzellan.
Und das Weiß des Porzellans war weißer als für die Unfarbe Weiß üblich.
Sie schien blutleer.
So verletzlich, dass sie einen Stempel mit dem Wort fragil hätte bekommen sollen.
Irgendwo auf ihren Körper, der höchstens 45kg wog.

Die Kleider die ihren Leib bedeckten wirkten zu groß, sie wurden nicht ausgefüllt, so als ob sie gewachsen, oder ihre Trägerin geschrumpft wäre.
Am auffälligsten war das bei der Hose.
Sie hing in Falten, wo bei anderen Frauen der Po und dessen Rundungen sind.
Ein Wesen das zu oft die brennende Peitsche des Lebens zu spüren bekommen hatte, dachte ich bei mir.
Ihr schien es nicht sehr gut zu gehen.

“Frau Siems“, hallte es aus dem Spalt der halb geöffneten Wartezimmertür, in den die Sprechstundenhilfe ihren Oberkörper gezwängt hatte.
Frau Siems warf die “Bild der Frau” , in der sie brav geblättert hatte, auf den Tisch mit den übrigen Zeitschriften und verschwand.

Das “Sport-Bild”- Alibi wurde immer lächerlicher; über den oberen Rand des Heftes beobachtete ich sie und Schätzungen, ihr Alter betreffend waren schwierig.
Schließlich einigte ich mich auf 25 Jahre, schwer und nach harter Auseinandersetzung.
Mir wurde schwindelig.

Als Nächste war sie an der Reihe.
Die dicke, schwitzende Arzthelferin, wieder zur Hälfte im Türrahmen, rief im Feierabendsingsang: “Frau Grünling!?”
Sie stand auf und verließ den Raum, wobei sie ein entkräftetes Schwanken kaum unterdrücken konnte.

Ich schaute ihr lange nach..
Ich schaute lange auf die, sich schließende Tür..
Und ich schaute lange auf die Tür, als sie geschlossen war...
Frau Grünling, dachte ich..
Frau Grünling und die sieben Schätze der Entbehrungen...



Nachdem ich dem Doktor ein weitere Ration Schlaf entlockt hatte, verließ ich die Praxis und das Gebäude in dem sich die Praxis befand.
Die Straßen waren leer, es regnete Beruhigung und Allem war nach blau.

Nur ein Kurierfahrer ließ sich nicht von seiner Arbeit abbringen.
Und natürlich zwei Verliebte, die Hand in Hand, klitschnass durch den Regen liefen und schweigend Protestlieder sangen.
Ich setzte meine Kapuze auf und marschierte los.

Ungefähr auf Höhe der KaiFU - Badeanstallt lief ich unter den dicht stehenden Linden zick-zack um die braunen Pfützen, als ich ein leises, vom Wind durch den krachenden Regen getragenes “warte!” hörte.

Ich blieb stehen und drehte mich um.
Sie stand direkt vor mir, sah mich an
und fiel in meine Arme..

Unvorbereitet taumelten wir und ich hätte fast das Gleichgewicht verloren.
Sie zitterte.
Ich drückte sie fest an mich, sodass auch ich zu zittern begann.
Wir zitterten abwechselnd, in Intervallen.
Zitterintervalle...



Das Fenster war geöffnet.
Ich saß auf Frau Grünlings Bettkannte und drehte eine Zigarette.
Der Regen hatte nachgelassen, es nieselte und die Stadt schwitzte.
Rauchend suchte ich nach ihrem Gesicht, wühlte mich durch die Bettwäscheberge und Kissen bis ich sie freigelegt hatte.
Sie schlief.
Ich schlich mich leise in den Flur um sie nicht zu wecken.
Was sollte ich ihr sagen?
Ich ging zum Schuhschrank, über dem ein Spiegel hing, sah mir in die Augen und legte mir die Worte zurecht.
Dann schrieb ich:

“Küss den Himmel, herz die Sterne - vergiss die Armut, verdräng die Leere.”
“Küss die Armut, herz die Leere - vergiss den Himmel, verdräng dieSterne.”


Und schloss die Tür...
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