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Alt 02.09.2011, 20:29   #1
männlich Legionär
 
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Standard Was von der Seele bleibt ( Auszug )

"Anders gesagt: Hunger, Seuchen, Durst und andere armutsbedingte Lokalkonflikte zerstören jedes Jahr fast genauso viele Männer, Frauen und Kinder wie der Zweite Weltkrieg in sechs Jahren. Für die Menschen der Dritten Welt ist der Dritte Weltkrieg unzweifelhaft in vollem Gang." Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt.



Außer dem tausendfachen Zirpen der Grillen, einem leichten Wind, der Verwesungsgeruch aus der Ferne herantrug und dem beinahe unwirklichen Sternenhimmel der sich über Ihm ausbreitete, gab es in dieser Dunkelheit nichts, das wirklich wahrnehmbar gewesen wäre. Aber er wusste es. Sie waren da. Irgendwo hinter dem Marulabaum, dessen gewaltige Silhouette sich in einiger Entfernung im schwachen Mondlicht gegen den Nachthimmel abzeichnete, waren sie und trachteten ihm genauso nach dem Leben, wie er ihnen. Die Fahrzeuge seiner kleinen Einheit hatten sie, gut getarnt, weit zurückgelassen und nur das mitgenommen, was sie wirklich brauchten. Waffen, Munition, Wasser und ein paar Medipacks. Jetzt lagen sie hier schon seit Stunden und beobachteten das Lager, das sich ungefähr 600 Meter in nördlicher Richtung vor ihnen befand, durch ihre Nachtsichtgeräte und Infrarot-Zielfernrohre. Drüben bewegte sich nichts, nur Fahrzeuge und ein paar Zelte waren zu erkennen. Wahrscheinlich schliefen die Männer da drüben und hatten keine Ahnung von dem, was auf sie zukam. Er hoffte, das alle seine Vorbereitungen und taktischen Manöver richtig gewesen waren und er und seine Kameraden das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten. Und auch die schmale Mondsichel mit ihrem fahlen Licht machte ihm Hoffnung. Bei Vollmond wären sie hier draußen in der Savanne Zielscheiben. So aber waren sie nahezu unsichtbar.

Angespannt lauschte er in die Dunkelheit, um jedes noch so leise Geräusch aufnehmen und orten zu können, aber alles was er hörte, war das Atmen seiner acht Kameraden und ein verräterisches Rascheln des dürren Grases, wenn einer von ihnen seine Lage änderte, um die steif gewordenen Gliedmaßen etwas zu entspannen. Die Hitze des Tages war mit dem Sonnenuntergang gegangen und allmählich breitete sich eine angenehme Kühle aus. „Wenn jetzt noch der Wind drehen würde“ dachte er, „und diesen unerträglichen Gestank von uns wegtragen würde, wäre es hier fast romantisch“.

So einen Sternenhimmel wie hier in Afrika hatte er noch nie gesehen, und unter anderen Umständen hätte er stundenlang auf dem Rücken gelegen und in den Nachthimmel gestarrt, wie er es als Jugendlicher zu Hause oft getan hatte. Die Sterne hier schienen zum Greifen nahe, sie leuchteten viel heller und intensiver als in Europa. Fast schien es, als könnte man sie einfach von diesem schwarzen Himmel, der wie ein Samttuch über ihnen ausgebreitet war, herunter pflücken. Auch die Sternbilder waren andere und anfangs hatte er Schwierigkeiten, sich an ihnen zu orientieren. Er verließ sich aber sowieso lieber auf Karte und Kompass, sofern es gute Karten von den Gegenden gab, in denen sie eingesetzt wurden. Viele Sachen lagen einfach im argen, und wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, wären ihre Einsätze besser geplant und vorbereitet gewesen. Im Zeitalter der Satelliten musste es doch möglich sein, den Männern, die die Drecksarbeit machen sollten, wenigstens gute Karten zur Verfügung zu stellen. Aber von den alten Herren, die am grünen Tisch über Menschenleben entschieden, musste schließlich keiner mit ihnen im Dreck liegen.
Immer wieder tastete er nach seiner Waffe, obwohl sie noch an der selben Stelle neben ihm lag, an der er sie vor Stunden abgelegt hatte und immer wieder fragte er sich, wie um alles in der Welt er in diesen Schlamassel hineingeraten konnte.

Eigentlich begann das ganze Dilemma mit dem Tag seiner Geburt. So angestrengt er auch darüber nachdachte, es fiel ihm einfach keine Begebenheit aus seiner Kindheit mehr ein, die er mit dem Begriff „glücklichsein“ in Verbindung bringen konnte. An das Gesicht seiner Mutter erinnerte er sich nicht mehr und einen Vater hatte es für ihn nie gegeben. Seine Brüder und seine Schwester wurden ihm genommen, bevor er überhaupt die Möglichkeit hatte, sie richtig kennenzulernen und das, was er an Erfahrungen und Erinnerungen aus fernen Kindertagen mitnahm, war eine unvorstellbare Traurigkeit, Angst und Wut. Was seine Mutter damals veranlasst hatte, ihre Kinder aufzugeben und sie zu den Großeltern zu bringen, hat er nie richtig erfahren. Alles, was er darüber wusste, hatte im seine Großmutter erzählt, die er erst nach 15 Jahren wiedersah. Es schien Geld im Spiel gewesen zu sein, Politik, Abenteuer und die Aussicht auf ein besseres Leben, aber eben auch vier kleine Kinder im Alter von 7 Monaten bis knapp 5 Jahren, mit denen die alte Frau zunehmend überfordert war. Irgendwann, als er gerade mal zwei Jahre alt war, stand die Polizei mit zwei Frauen von der Jugendfürsorge vor der Tür und holte die Kinder ab. Ohne viel Federlesen wurden sie frühmorgens im Schlafanzug in ein großes schwarzes Auto gesetzt, egal wie sehr sie auch schrien und sich wehrten. Ein Polizist hielt die Großmutter fest, der andere forderte neugierige Passanten auf, weiterzugehen. Lange war das einzige, was ihm von seiner geliebten Großmutter blieb die Erinnerung, wie sie in ihrer bunten Kittelschürze weinend auf der Straße stand, dem davonfahrenden Auto mit den 4 Kindern mit einem großen Taschentuch hinterherwinkte und dann zu Boden sank. Als er sich Jahre später mit ihr darüber unterhielt sagte sie „das kannst du gar nicht wissen, du warst noch so klein damals“ Aber er wusste es. Genauso war es. Er hatte es gesehen. Alles was er bis dahin hatte und alles was er liebte, war plötzlich über Nacht nicht mehr da, und das was ihm blieb, waren seine Geschwister. Aber niemanden kümmerte es damals, wie es mit den Kindern weitergehen sollte, die wie Kletten aneinander hingen. Er wurde von seinen Geschwistern getrennt. Erst verschwand sein Schwesterchen, dann war plötzlich der kleine Bruder nicht mehr da und zuletzt wurden er und sein großer Bruder auseinandergerissen. Er war plötzlich mutterseelenallein, voll Misstrauen und Angst. Seine Kinderseele verkraftete das nie. Für ihn begann eine Reise, die wahrscheinlich nie zu Ende gehen würde. Es war ein Trauma, das ihn bis heute nicht losließ und ihm manchmal die Tränen in die Augen trieb.

Er war in Kinderheimen aufgewachsen, die diese Bezeichnung nicht verdienten und wurde in die Obhut von Menschen gegeben, die ihn mehr verletzten als erzogen. Er kam nie zur Ruhe und fühlte sich nirgendwo zu Hause, weil er selten länger als ein paar Wochen an einem Ort war. Er wurde von einem Kinderheim zum nächsten geschickt, er war überall „der neue“, der sich einzuordnen hatte und meistens schuld war, wenn die anderen Kinder etwas ausgefressen hatten. Es gab für ihn keine Freunde, keine Spielkameraden, nicht mal ein eigenes Spielzeug. Irgendwann vertraute er niemandem mehr, keinem Erwachsenen, keinen Kindern, nur noch sich selbst. Und er zog sich zurück in seine eigene, innere Welt. Das alles geschah, weil irgendwann ihre Mutter sie zum Politikum machte, als sie die damalige Deutsche Demokratische Republik vom West-Berlin aus öffentlich beschuldigte, ihr die Kinder entrissen zu haben, diesen Staat bei der UNO Menschenrechtskommission anklagte und gleichzeitig ankündigte, ihre Kinder mit allen Mittel aus den „Fängen der Roten“ zu befreien. Er war ganz bestimmt kein Freund der Kommunisten, aber in diesem Punkt musste er sie in Schutz nehmen. Es war einfach nicht so. Sie ganz allein hatte es verbockt.

Ihre Lügengeschichte allerdings, die auch noch lang und breit in mehreren Folgen in einer Bilderzeitung abgedruckt wurde, machte den zwei großen Kindern das Leben zur Hölle. Für seine kleineren Geschwister hatten sich glücklicherweise, bevor der ganze Zirkus losging, liebevolle Pflegeeltern gefunden, die sie adoptierten und bei denen sie bis zur Volljährigkeit lebten.
Wenn der Satz stimmen sollte, das die Kindheit den Menschen prägt, hätte er ein Monster werden müssen. Aber irgend etwas war bei ihm anders gelaufen als bei denen, über die er manchmal fassungslos Berichte im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen hatte, und die sich bei all den Verbrechen, die sie begangen hatten, auf eine schwere Kindheit beriefen. Und immer waren sofort Experten zur Stelle, die verständnisvoll für eine Therapie nach der anderen plädierten, anstatt diese Leute tatsächlich für das zu bestrafen was sie getan hatten. Er hatte nie einem Menschen absichtlich etwas böses getan, Schlägereien war er möglichst aus dem Wege gegangen und wenn es wirklich einmal Meinungsverschiedenheiten gab, versuchte er zumindest, die Dinge mit Worten zu regeln ehe er zuschlug. Wenn es allerdings einen Menschen auf der Erde gab, dem er die Pest an den Hals wünschte und den er am liebsten ertränkt hätte, war es die Frau, die sich irgendwann mal seine Mutter nannte.
Und jetzt lag er hier in dieser gottverlassenen Einöde mitten in Afrika...

Ein leises „psssst“ riss ihn aus seinen Gedanken. „Something´s happening over there“ Es war Pete, sein Kamerad aus Manchester, der in der vergangenen Stunde aktive Wache hatte. Sie kannten sich jetzt seit fast 4 Jahren und konnten sich blind vertrauen, im übrigen war Pete der einzige Engländer, den er wirklich gut leiden konnte.

Das lag daran, das er sich ein bisschen für Geschichte interessierte und die Briten, was Moral und Menschlichkeit anbelangte, seiner Meinung nach nicht allzu gut wegkamen. Überall da, wo das britische Reich seit dem Mittelalter seine Finger im Spiel hatte, gab es Tote, Tote und nochmals Tote. Egal, ob in Indien, China, Palästina, den Kolonien in Übersee, Irland oder den Kolonien in Afrika. Die Liste der Länder, in die das britische Königreich in der Vergangenheit Krieg, Sklaverei, Leid und Not gebracht hatte und Hunger als Waffe einsetzte, war lang. Wie viele Millionen Tote es zum Wohle des Empire gab, konnte nur geschätzt werden.
Auch Somalia war vom britischen Kolonialismus nicht verschont geblieben, obwohl sich die Engländer in britisch-Somaliland überwiegend darauf beschränkten, das Gebiet als Versorgungsbasis für ihre Schiffe, und als Militärstützpunkt zu nutzen und somalisches Vieh zu exportieren. In die inneren Konflikte und Strukturen mischten sich die Briten kaum ein, sie waren an einer Entwicklung des Landes ebenso wenig interessiert wie an seiner Bevölkerung. Trotzdem gab es Clans, die sich der Fremdherrschaft nicht beugen wollten und 1899 einen Guerillakrieg gegen die Besatzer begannen, der bis 1920 dauerte. Die Briten waren wie immer nicht zimperlich wenn es um ihren Machterhalt und wirtschaftliche Interessen ging und so kam im Laufe dieses Konflikts ein Drittel der Bevölkerung von britisch - Somaliland ums Leben. Pete allerdings entsprach nicht seiner Meinung über Engländer. Eigentlich war der ebenfalls ein Opfer britischer Kolonialpolitik und so sah sich der Ire auch augenzwinkernd selbst.

Pete machte eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung Richtung Norden, hob seine Hand und schloss und öffnete seine Faust zweimal. Fünfzehn Mann also. Vielleicht auch mehr, wenn ein paar von denen in Deckung geblieben waren, aber es war kein unüberschaubares Risiko. Er griff nach seiner Waffe und legte den Sicherungshebel um.
Drüben gingen mehrere Scheinwerfer an. Irgend einer versuchte, einen Motor zu starten, was aber offensichtlich nicht funktionierte. Lautes Fluchen und Gelächter war zu hören, einer der Brüder stimmte einen seltsamen Singsang an. Wenn jemand mitten in der Nacht in der Savanne solch einen Lärm machte und dazu noch weithin sichtbar die Szenerie beleuchtet, fühlt er sich entweder absolut sicher und allein oder er weiß, das er seinem Gegenüber haushoch überlegen ist. Niemand konnte wissen, das er mit seinen Leuten hier war. Da war er sich relativ sicher. Also rechneten sie nicht mit ihm und seinen Männern. Das war gut für ihn und schlecht für sie. Und über die These mit der haushohen Überlegenheit dachte er nicht ernsthaft nach. Sie waren eine Spezialeinheit mit einem Faktor 73/1. Das bedeutete, das rechnerisch auf jeden getöteten Kameraden seiner Einheit 73 getötete Gegner kamen. Bis jetzt hatte er vier Mann verloren. Die Statistik machte auch vor dem Krieg nicht halt.

Seit Tagen jagten er und seine Männer diese Bande jetzt schon, aber immer wieder waren sie zu spät gekommen. Sie folgten einer Blutspur, die von einem Dorf zum anderen führte, und es blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Zahl der zurückgelassenen Toten an das Hauptquartier weiterzugeben und die Leichen der Frauen, Kinder und alten Männer einzusammeln und zu verbrennen. Sie jagten eine Bande von Dieben und Mördern, die sich darauf spezialisiert hatten,
den ärmsten der Armen das wenige zu rauben, was an Hilfe in diesem von Gewalt, Hunger und Krankheit gequälten Land ankam. Lebensmittel. Mais und Zucker, Milchkonserven und Medikamente. Die Raubzüge liefen immer nach dem gleichen Schema ab. Irgendwo im Hafen von Mogadishu und in den Verteilzentren des Roten Kreuzes, des Roten Halbmondes oder des UNHCR hatten sie ihre Informanten sitzen, die sofort Bescheid gaben, wenn ein Schiff mit Hilfsgütern ankam und entladen wurde oder sich ein Konvoi mit Wasser, Lebensmitteln, Zelten und Medikamenten in Bewegung setzte. Die Angaben über Ziele, Anzahl der Fahrzeuge, Art und Menge der Ladung und Sicherung des Konvois waren immer erstaunlich präzise, zumindest ließ die Durchführung der Überfälle diesen Schluss zu. Die Transporte wurden entweder feige in Hinterhalte geführt oder in offenem Gelände überfallen, je nachdem, wie stark die Begleitmannschaft war. Meistens wurden die Fahrer getötet, die einheimischen Bewacher liefen entweder zu den Banditen über oder wurden niedergemetzelt, es war immer wieder das selbe brutale Vorgehen. Wenn sich die Gelegenheit ergab, wurden die LKW gleich mit der Beute mitgenommen, ansonsten wurde alles umgeladen und die Transportfahrzeuge in Brand gesteckt.

Die Bewaffnung der Bande war hervorragend, sie verfügten über Granatwerfer, AK 47 und RPG 75 genauso wie über ein 20mm Geschütz, das auf einen Geländewagen montiert war. Warum allerdings für solche Umbauten immer wieder Toyotas bevorzugt wurden verstand er bis heute nicht. Er hatte diese umgerüsteten Fahrzeuge das erste Mal in Mogadishu gesehen, zwar nur als ausgebrannte Wracks, aber er wusste, wie effektiv diese Art der Bewaffnung war. „Nichts ist unmöööööglich – Toyotaaaa...“ dieser Werbegag, über den er früher so herzlich lachen konnte, entlockte ihm heute nur noch ein zynisches und bitteres Grinsen.

Mit den erbeuteten Lastkraftwagen der UN war die Bande unglaublich mobil, die Banditen tauchten wie aus dem nichts auf und verschwanden genau so schnell wieder. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, das Aussehen der Fahrzeuge zu verändern und deshalb wusste man nie, ob es wirklich ein UN Fahrzeug war, das sich aus der Ferne näherte oder ob hinten auf der Ladefläche 20 Halunken saßen, die auf Raubzug waren. Andererseits war das natürlich eine gerissene Taktik, denn so konnten sie sich leicht ohne weiteres bis auf Schussweite nähern, ehe der Betrug aufflog.

Solche Banden gab es mittlerweile in ganz Somalia, und alle gingen nach dem selben Prinzip vor.
Wenn ein Überfall während des Transportes zu risikovoll war, warteten die Banditen in aller Ruhe ab, bis die Fracht ihren Bestimmungsort erreicht hatte, verteilt war und der Konvoi mitsamt der bewaffneten Begleitung sich weit genug entfernt hatte. Dann schlugen sie blitzschnell zu. Wurde der Überfall bemerkt und man kam zum Ort des Geschehens zurück, war der Spuk schon längst vorbei und man fand nur noch rauchende Trümmer vor. Es kam allerdings selten vor, das ein Konvoiführer sich zur Umkehr entschloss, wenn er in der Ferne Maschinengewehrfeuer hörte. Zu viele hatten ihre Courage schon mit dem Leben bezahlt und für wirkliche Hilfe war es sowieso in den meisten Fällen zu spät. Es galt der alte Grundsatz, das einem das Hemd näher war als der Rock.
Immer waren offensichtlich genügend Fahrzeuge oder Tragetiere vorhanden um die Beute abzutransportieren, jedenfalls fanden sich an den Schauplätzen der Überfälle höchstens kleine Reste der gelieferten Sachen. Was jedoch immer zu finden war, waren Leichen.

Es war mittlerweile sehr schwierig geworden, unter den Einheimischen Fahrer für diese Konvois zu finden, das, was ehemals als begehrter und sicherer Job galt, um den sich die Somalis auch regelmäßig prügelten, galt heute als Himmelfahrtskommando, an dem sich niemand mehr beteiligen wollte. Auch zusätzliche Gelder, die von der UN zur besseren Bezahlung der Fahrer lockergemacht wurden, änderten daran nicht viel.

Die Anzahl der Gangsterbanden und Milizen nahm jedoch immer mehr zu, da es für viele Somalis offensichtlich lukrativer und aussichtsreicher war, durch Überfälle ihrer bitteren Armut zu entrinnen, oder zumindestens einem „Warlord“ zu dienen, der ihnen Schutz, ihre tägliche Ration Maisbrei, Bier und Miraa garantieren konnte. Miraa oder auch Khat war eine weitere große Krankheit dieses Landes. Alle kauten es. Alle brauchten es und es wurde geliefert. Die Blätter des Khatstrauches werden gekaut und wirken wie Amphetamine, allerdings schwächer, aber da es fast ununterbrochen konsumiert wurde, relativierte sich das. Die meisten nahmen es, weil Khat das Hungergefühl betäubt. Viele Bauern bauten statt Lebensmitteln jetzt lieber Khat an, weil sie sich davon ein besseres Einkommen erhofften, oder sie wurden von Banden dazu gezwungen. Der Anbau dieses Strauches braucht sehr viel Wasser und verschlang die ohnehin sehr begrenzte Fläche, auf der überhaupt etwas angepflanzt werden konnte. Bezahlt wurden die Blätter mit Lebensmitteln oder den Dollars, die man aus dem Verkauf von Lebensmitteln gewann. Lukrativer als der Handel mit Chat war nur noch der Handel mit Waffen, die natürlich genauso bezahlt wurden wie das Rauschgift. Das Zahlungsmittel lieferten die UN und Hilfsorganisationen in großen Mengen gratis, man musste es sich nur holen. Und holen konnte man es sich am einfachsten und in großen Mengen, wenn man über Waffen verfügte. Es war ein endloser Kreislauf, der am Ende nur denen etwas nützte, die das alles kontrollierten und ihrem Willen mit Waffengewalt Nachdruck verleihen konnten. Es herrschte das Gesetz des stärkeren. Die Schwachen starben zu zehntausenden.

Alles, was dieses geschundene Land und seine Menschen seiner Auffassung nach wirklich brauchte, waren Bildung, Nahrung für alle und eine wirkliche Zukunftsperspektive für die Menschen. Aber deswegen war er nicht hier. Sein Job war einfacher.

„Nach Möglichkeit festnehmen und nach Mogadishu bringen“ lautete sein Befehl. Doch er wusste, dass es heute Nacht keine Möglichkeit zur Festnahme geben würde. Zu viele Leichen hatten sie dafür in den letzten Tagen gesehen und seine Männer waren wie er dazu entschlossen, heute einen Schlussstrich zu ziehen. Wenigstens für diese Banditen da drüben. Er hatte sie tagelang durch die Savanne verfolgt, immer darauf bedacht, unentdeckt zu bleiben aber doch das Tempo zu halten. Stundenlang hatten sie tagsüber in glühender Hitze nahezu regungslos ausgehalten, nachts Erkundungsmärsche von 30 Kilometern und mehr hingelegt, um den Anschluss nicht zu verlieren , dabei schleppte jeder gut 35 Kilo Ausrüstung inklusive Waffen und Munition mit sich herum. Aber sie waren gut trainiert, topfit und für solche Missionen bestens ausgebildet. Bei längeren Einsätzen ohne Nachschub waren sie in der Lage, Dinge zu essen, die andere nicht einmal mit der Fußspitze anrühren würden, sie kondensierten notfalls Wasser aus ihrem Urin und sie waren dazu erzogen worden, Schmerzen zu unterdrücken. Sie bewegten sich im Gelände fast geräuschlos und jeder von ihnen beherrschte seine Waffen perfekt. Das Arsenal, das sie mit sich führten, hätte ausgereicht, eine Kleinstadt zu entvölkern. Vom M 650 bis zum TCI M89 war alles dabei, mit dem man auf große Entfernung präzise töten konnte, dazu kamen Sturmgewehre, Maschinenpistolen, Gewehrgranaten, Raketenwerfer und kleinere Handfeuerwaffen. Jeder von ihnen hatte seine Favoriten und im Einsatz war die Mischung der verschiedenen Kaliber und Waffenarten und ihre Präzision für die Gegner meistens verheerend. Wenn sie kamen, war es fast immer zur Nacht, und viele von denen, deren Leben sie auslöschten, merkten es nicht einmal.

Jeder von Ihnen wusste, was er zu tun hatte. Sie hatten sich blitzschnell auf ihre Positionen im Gelände begeben, die sie sich noch in der kurzen Dämmerung gesucht hatten, weit genug voneinander entfernt aber doch noch als Einheit funktionierend. Alle hatten ihre Primärziele im Visier, ein Sekundärziel in Beobachtung, ein freies Schussfeld und auf sein Zeichen begann für die da drüben ein kurzer Alptraum. Als ersten traf es einen der Männer, die in der Zwischenzeit die Motorhaube des Geländewagens geöffnet hatten, den sie nicht starten konnten. Es war ein sauberer Schuss aus Pete´s M 650. Noch bevor der Mann den Schuss überhaupt hörte, sackte er zusammen und blieb liegen. Sein Kumpan schaute erstaunt und wollte sich gerade zu ihm hinunterbeugen, als die zweite Kugel aus Pete´s Waffe seinem Leben ein Ende bereitete. Maurice, ein kleiner, immer mürrischer Franzose mit dem Herz eines Löwen feuerte einen Schuss nach dem anderen aus seiner TCI, von denen jeder einzelne traf. Die Somalis hatten inzwischen bemerkt, das irgendetwas nicht stimmte und begannen, wild und nach allen Seiten um sich zu feuern. Aber offenbar wussten sie immer noch nicht, aus welcher Richtung der Tod zu ihnen kam.

Ein paar Garben aus den AK 47 lagen gefährlich nahe bei Ihm und seinen Leuten, aber die Projektile verschwanden mit fröhlichem Pfeifen in der Nacht, ohne Schaden anzurichten. Pete hatte sein M 650 zur Seite gelegt. Es nutzte nur bei Zielen etwas, die sich kaum oder nur langsam bewegten. Aber drüben rannten sie jetzt herum wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen und sonderbarerweise fiel es keinem von denen ein, in Deckung zu gehen. Sie waren keine militärische Einheit sondern ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Mördern und Dieben, die, wenn die Gelegenheit günstig und die Beute lohnend war, sich ohne zu zögern auch gegenseitig umgebracht hätten. Eine andere Sache war es bei den Milizen. In dem, was sie taten, unterschieden sich die verschiedenen Gruppierungen nur unwesentlich voneinander. Aber die Milizen waren straff organisiert, gut ausgebildet und wurden oft von Offizieren der ehemaligen somalischen Armee geführt. Aber mit so einem Gegner hatten sie es hier und heute nicht zu tun.

Pete´s Maschinengewehr fing an zu bellen und Leuchtspurgeschosse zeichneten farbige Striche in die Nacht. Es sah geradezu malerisch aus, fast wie Silvester, aber die bunten Bahnen, die da gen Norden zischten, brachten keinen Spaß. Wenigstens wussten die da drüben jetzt, woher sie angegriffen wurden. Augenblicklich schlug Ihnen heftiges Feuer entgegen, aber da sie in Deckung blieben, und die auf der anderen Seite, wie die meisten Somalis, schlechte Entfernungsschützen waren, war alles im grünen Bereich. „Ha“ dachte er, „ihr solltet weniger von Eurer Scheiße fressen, dann würdet ihr nicht den ganzen Tag zugedröhnt rumrennen“
Grimmige Gedanken durchzuckten seinen Kopf, während er den Geländewagen mit der aufmontierten 20mm immer im Sucher seines Zielfernrohrs behielt. Das Geschütz stammte entweder, wie fast alle Waffen der Somalis, aus russischer Uralt-Produktion oder war ein chinesischer Lizenzbau. Aber eben leider äußerst effektiv. Sollte es denen da drüben gelingen, dieses Geschütz einzusetzen, könnte das wirklich eine Menge Probleme bringen. Bis jetzt hatten zwei Somalis den Versuch, auf die Ladefläche des Landcruiser zu kommen, mit dem Leben bezahlt.
Aber sie taten ihm nicht leid. Gefühle im Einsatz hatte er sich abgewöhnt, seit er in Mogadishu einem höchstens 13-jährigem gegenüberstand, der mit einer Kalaschnikow auf ihn anlegte. Er war damals völlig geschockt und nicht in der Lage, auf ein Kind zu feuern. Pete hatte den Jugendlichen damals erschossen und ihm damit das Leben gerettet. Der Junge hätte ohne Gewissensbisse abgedrückt. Klar, er hatte davon gehört und er kannte die Berichte, aber trotzdem vergaß er alles um sich herum und ging auf Pete los. Er schrie ihn immer wieder an. „You kill a Child...“You kill a child“ Pete zerrte im am Kragen hinter den nächsten Mauervorsprung, weil sie immer noch unter Beschuß lagen und sagte mit einer sehr ruhigen und sehr betonten Stimme: „He or you. And I prefer you as him“. Genauso war es. Er oder Du... Er brauchte sehr lange Zeit, um das Gesicht des toten Jungen zu vergessen, aber er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, das er eines Tages an Pete´s Stelle stehen würde.

Diese Kindersoldaten gab es in allen Krisengebieten Afrikas und sie wurden von klein auf dazu abgerichtet zu töten. Es gab einige Berichte darüber, das Banden Dörfer überfielen, die Mütter töteten und Mädchen und Jungen ab ungefähr 3 Jahren entführten um sie entweder als Sklaven in den Sudan oder als zukünftige Soldaten an Warlords zu verkaufen. Verschiedene Milizen, die große Teile des Landes kontrollierten, holten sich die Kinder gleich selbst. Wer sich dagegen wehrte, wurde umgebracht. Es gab Fälle, in denen wegen ein paar Kindern ein ganzes Dorf ausradiert wurde. Viele dieser Kinder wurden zu den gewissenlosesten Killern, die man sich vorstellen konnte und begingen unvorstellbare Grausamkeiten. Immer wieder musste er sich dazu zwingen, die aufsteigende Wut zu unterdrücken. Wut ist ein schlechter Ratgeber. Was er brauchte, war Kaltblütigkeit.
Auch der dritte Somali der wild um sich feuernd versuchte, in die Nähe Nähe der Schnellfeuerkanone zu kommen, wurde wie von einer unsichtbaren Faust von den Füßen gerissen, als ihn seine Kugel traf.

Langsam wurde das Abwehrfeuer auf der anderen Seite schwächer, seine Männer verrichteten ihren Job mit tödlicher Präzision. Einer nach dem anderen da drüben fiel um und diejenigen, die noch am Leben waren, wurden immer panischer und versuchten endlich, in Deckung zu gehen. Ein paar RPG 7 Geschosse zischten in die Nacht, aber sie gingen irgendwo weit hinter ihnen nieder. „Zu blöd, wenn diese Arschlöcher jetzt zufällig meinen Jeep treffen würden“, dachte er. Er ließ die Raketenwerfer in Stellung bringen und griff nach seinen Gewehrgranaten. Was jetzt begann, war ein Inferno. Eine Wand aus Feuer erhob sich auf der anderen Seite und setzte augenblicklich das trockene Savannengras in Brand. Autos und Zelte wurden durch die hochexplosiven Geschosse genauso zerfetzt wie die Männer, die in ihrer Nähe oder unter ihnen Deckung zu finden versuchten. Eine nach der anderen Rakete fauchte in das Lager, und er verschoss seine Gewehrgranaten bis er ins Leere griff. Maurice sorgte mit seinem FAMAS G2 dafür, das keiner der Männer da drüben ausbrechen konnte. Die anderen Jungs hatten das Lager in der Zwischenzeit weiträumig umgangen und versperrte den Rückzug nach Norden oder über die Flanken. Heute war Zahltag für all die Strapazen, schlaflosen Nächte und all die Toten, die sie auf ihrem Weg hinterlassen hatten. Dann zu trat Stille ein. Drüben regte sich nichts mehr, kein Lebenszeichen war mehr zu entdecken, kein Schuss fiel. Es war eine unwirkliche Stille, selbst das Zirpen der Grillen war verstummt. Der Geruch von trockenem, brennendem Gras erfüllte die Luft und dazwischen nahm er den süßlichen Gestank von verbranntem Fleisch wahr.

Die ganze Aktion hatte nicht mehr als 10 Minuten gedauert. Er wartete noch eine Minute ab, um sicherzugehen das sich drüben wirklich nichts mehr bewegte, dann hob er die Faust und gab seinen Männern damit das Zeichen zum sammeln. Langsam und nach allen Seiten sichernd, gingen sie auf die Stelle zu, an der zuckender Feuerschein ein gespenstisches Licht auf die Umgebung warf und dicke Rauchschwaden in den Himmel stiegen. Hier rührte sich nichts mehr.
„So einfach ist das“ dachte er bei sich. Hätten die feinen Herren von der UNO sich schon eher dazu durchringen können, ihrem Einsatz zuzustimmen, wie viele Menschen hätten nicht sterben müssen.
Er hörte sich bitter auflachen. War es nicht einerlei, ob all diese armen Teufel wegen ein paar Säcken Mais umgebracht werden oder nach ein paar Wochen verhungern ?
Tot ist tot. Daran konnte er nichts ändern, auch wenn er sich und seinen Männern die größten Strapazen abverlangte. Es lag einfach nicht in seiner Macht. Sie konnten nur versuchen, inmitten von Chaos und Zerstörung anständig zu bleiben und sich das Menschsein zu bewahren.

Auf einer Fläche, die nicht viel größer war als ein halbes Fußballfeld, lagen verteilt zwischen verlassenen Fahrzeugen, brennenden Fahrzeugwracks und überall verstreuten Ausrüstungsgegenständen die Leichen von ungefähr 30 Männern.
Viele von ihnen schienen noch sehr jung, nicht viel älter als 18, vielleicht auch 20 Jahre, aber in dieser Beziehung konnte man sich bei Afrikanern leicht verschätzen. Einige der Toten trugen Gummistiefel oder aus alten Autoreifen gefertigte Sandalen, andere waren barfuß.
Schon das ließ auf die Stellung der einzelnen Männer innerhalb der Gruppe schließen, denn wer Gummistiefel besaß, galt in diesem Land schon etwas. Er lachte laut auf. Einer dieser Typen hatte tatsächlich rosa Gummistiefel an. Es gab immer wieder solche Situationen, die so urkomisch waren, das man einfach nur brüllen konnte vor lachen und das an Orten, an denen normalen Menschen das Blut in den Adern gefroren wäre.
Ihm fiel der Somali ein, der an jedem Arm 4 Uhren trug, von denen jede einzelne eine andere Zeit anzeigte, aber nicht eine auch nur annähernd die richtige. Zu seinem Unglück ging bei einer dieser Uhren der Wecker los, verriet ihn und kostete ihn das Leben.
Er konnte nicht mal behaupten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.

Von den wenigen, die als Anführer gelten konnten, weil sie so etwas wie eine Uniform trugen, machten sie Fotos und nahmen wenn es möglich war, Fingerabdrücke. So lautete die Anweisung, aber ihm war bis jetzt noch kein Fall bekannt, in dem das irgendetwas genützt oder bewirkt hätte. Aber vieles war in diesem Krieg einfach nur sinnlos, und deshalb regte er sich nicht mehr darüber auf. Einige der Leichen waren furchtbar entstellt, von anderen waren nur noch einzelne Körperteile zu finden, weshalb er die Anzahl der getöteten Banditen nur schätzen konnte. Dann katalogisierten sie die Fahrzeuge, schätzten die Menge des Diebesgutes und sammelten die Waffen ein, die sie finden konnten. Er wusste, das es nicht viel nützen würde, aber Waffen und Munition wurden an einer Stelle aufgestapelt und später durch Feuer zerstört. Das Brennmaterial lag überall herum.
Schweigend begannen sie, die Toten einzusammeln und rings um den Waffenstapel einen großen Scheiterhaufen zu errichten. Dazwischen packten sie leere Munitionskisten und alles brennbare, was hier noch zu finden war. In einigen Fahrzeugen war noch Treibstoff. Das Feuer würde lange brennen.

Pete hielt das wie immer für viel zu sentimental und eine unnütze Kraftverschwendung, packte aber doch mit an. Auch seine anderen Jungs hätten diesen Ort lieber so schnell wie möglich verlassen. Obwohl sie schon viel gesehen hatten, Orte wie dieser hier waren immer noch unheimlich. Aber irgendwie brachte er es selbst nach all der Zeit nicht übers Herz, die toten Körper einfach so liegenzulassen um den Geiern, Schakalen und Hyänen den Tisch zu bereiten. Auch wenn die, die jetzt auf einem Haufen lagen, vorher noch so große Bastarde gewesen sind, es waren irgendwie doch Menschen und die Vorstellung, wie deren Leichen von Tieren zerrissen und gefressen wurden, ließ ihn erschaudern.
Nach einer Stunde brannte der Scheiterhaufen. Es gab hier nichts mehr für sie zu tun und er beendete die Funkstille, die er seit einer Woche gehalten hatte. Er meldete seinem Führungsoffizier das Ende des Einsatzes, gab seine Koordinaten durch und forderte die Hubschrauber an, die die umfangreiche Beute der Bande nach Mogadishu bringen sollten. Dort würde sie wieder Teil des unendlichen Kreislaufes werden. Was für eine Idiotie. Stumm und erschöpft standen er und seine Männer mitten in Afrika. Die Sonne würde in einer Stunde aufgehen und ihre glühende Hitze wie einen dicken schweren Mantel über die Savanne ausbreiten. Die Sonnenaufgänge in diesem Land waren traumhaft, aber richtig erfreuen konnte er sich an ihnen schon lange nicht mehr. Sie starrten schweigend in ein lichterloh brennendes Feuer, rauchten und hingen ihren Gedanken nach. Eine Pechschwarze Rauchwolke stieg in den Himmel, und er fragte sich, ob dieser Rauch auch Seelen in sich tragen könnte. Eine Berührung riss ihn aus seinen Gedanken. Pete reichte ihm wortlos einen Brief. Er nahm ihn mit einem Lächeln, strich ihn sorgfältig glatt und steckte ihn in die linke Brusttasche. Links schlug das Herz. Es war ein seltsames Ritual, welches sich im Laufe der Zeit zwischen den beiden entwickelt hatte.

Am Ende ihrer Ausbildung waren sie Freunde geworden, obwohl er Pete am Anfang nicht ausstehen konnte. Der Brite war ein Krakeeler und Großmaul, wie es im Buche stand, mit dem man notgedrungen aber irgendwie auskommen musste. Doch es gab auch nicht wenige in der Truppe, die ihm liebend gern mal eine zwischen die Augen gehauen hätten. Das scheiterte allerdings immer wieder an der Körpergröße des Rotschopfes. Auch der Körperbau von Pete ließ vermuten, das eine Auseinandersetzung mit ihm sehr schmerzhaft werden könnte. Pete kam aus Manchester, war aber eigentlich Ire und schon von weitem an seinem feuerroten Haarschopf zu erkennen. Er sprach nur englisch mit einem breiten Akzent und kam mit den Vorgesetzten nur zurecht, weil er die Befehle, Meldungen und Kommandos auswendig lernte. Aber das machten eigentlich alle so, kaum einer war wild darauf, wirklich französisch zu lernen. Der kleinste gemeinsame Nenner unter den Männern war ein sehr einfaches englisch. Man konnte sich damit problemlos verständigen und brauchte kein Wörterbuch. Pete machte sich über die Franzosen und Italiener in Ihrer Einheit lustig, wann immer es eine Gelegenheit dazu gab. Ihn nannte er nur „Kraut“ und fand das unheimlich komisch.

Doch bei allem zur Schau gestelltem Imponiergehabe steckte ein butterweicher Kern in ihm. Er bemerkte das an einem der letzten Tage ihrer Grundausbildung, als sie nach einem Geländemarsch nachts ihre Stellung ausbauen sollten und Maurice, der kleine Franzose, viel zu erschöpft war, um sein Schützenloch auszuheben. Der Befehl lautete, das alle erst dann schlafen durften, wenn der letzte mit seinem Unterstand fertig war. Der Boden war so ausgetrocknet und steinhart, dass es schon für einen ausgeruhten Mann schwierig war, das tiefe Loch vorschriftsmäßig in die Erde zu graben. Der Soldat sollte darin stehen können, es sollte oben enger sein als am Boden und der Aushub musste so im Gelände verteilt werden, das er keinen Hinweis auf die Stellung geben konnte. Schließlich erkennt man einen Maulwurf an seinen Hügeln und nicht an den Gängen, die er gräbt.
Maurice mühte sich ab, so gut er konnte, neben den Blasen an den Füßen hatte er jetzt auch welche an den Händen, aber von seinen Bemühungen war nicht viel zu sehen.
Die anderen Kameraden schufteten schweigend, nur ab und zu war ein leises Fluchen zu hören, das vom Sergent-Chef sofort mit einer Rüge quittiert wurde. Die Strapazen des Marsches, die schmerzenden Füße und Hände und die Erschöpfung, unter der Maurice litt, waren wohl der Grund dafür, das sich der kleine Franzose plötzlich aufrichtete, mit einem lauten Fluch den Feldspaten in die Büsche schleuderte, sich unmittelbar darauf auf seinen kleinen Erdhaufen setzte und anfing zu weinen.
Der Zugführer hatte dies alles bemerkt und schrie Maurice an: „Maintenant dans le combat, Tu étais mort“ Das hieß so viel wie „ im Gefecht wärst Du jetzt tot“ . „Ist mir scheißegal, im Gefecht würden wir auch nicht solche beschissenen Löcher buddeln“ schrie Maurice zurück. Auf solch eine Antwort war der Zugführer nicht gefasst, er war von all seinen Männern Disziplin gewohnt. Er baute sich vor Maurice auf und wollte gerade mit einer seiner berüchtigten Schimpftiraden beginnen, als sich ein Schatten aus der Dunkelheit erhob. Pete hatte seinen Spaten in die Erde gerammt, ging langsam auf die beiden Streithähne zu und quetschte leise zwischen den Zähnen hervor: „You, however, also, you braggart“

Alle hatten die Arbeit eingestellt und schauten dieser Szene gespannt zu, als wären sie nicht an irgendeinem verfluchten Ort um diese Dreckslöcher zu graben, sondern in einem Kinosaal. Fehlte nur noch die Cola und das Popcorn. „Was glotzt ihr so dämlich“, fragte Pete in seinem breiten Dialekt in die Runde. „Noch nie was von Kameradschaft gehört ? Ich grabe dem kleinen Clochard sein Loch, meins ist fertig. Basta.“ Und fügte dazu: „Und außerdem will ich endlich pennen“
Der Zugführer stand mit offenem Mund da und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Pete war bis jetzt immer als ein Sonderling aufgefallen, der sich nur um sich kümmerte und jetzt so etwas ? Wochenlang hatte der Sergent – Chef von Kameradschaft gesprochen, das sie eine Einheit und aufeinander angewiesen wären, und ausgerechnet jetzt sollte Pete das begriffen haben ?
„Dann fang schon mal an“, sagte er und fügte noch drohend hinzu: „Aber das hat ein Nachspiel“ Wen von seinen beiden Untergebenen er meinte, sagte er nicht. Er entfernte sich, ohne noch einen Kommentar abzugeben und die ganze Nacht lang war von ihm nichts mehr zu hören.

Pete schnappte sich seinen Feldspaten und begann wie ein Irrer, auf die harte Erde einzuhacken während Maurice versuchte, sein Grabgerät in den Büschen wiederzufinden. Als er zurückkam, hatte der Ire die harte Oberfläche aufgebrochen und gemeinsam gruben sie, sich gegenseitig abwechselnd, das Schützenloch in den Boden, bis es die vorschriftsmäßige Größe hatte. Sie verteilten die Erde im Gelände und in den Büschen und als sie fertig waren hörte man ein leises „Merci“. Pete brummte irgend etwas unverständliches, klopfte dem kleinen Franzosen seine Pranke auf den Rücken und trollte sich in sein Loch. Minuten später war tiefes Schnarchen zu vernehmen.

Er hatte die ganze Situation beobachtet, und den Iren von diesem Augenblick in sein Herz geschlossen. Er hatte sich schon in vielen Menschen getäuscht, aber Pete war der letzte, dem er das, was er gerade tat, zugetraut hätte.

Der nächste Morgen begann mit Vogelgezwitscher und dem Gebrüll des Zugführers. „Raus aus den Federn, Mädels, ein wunderschöner Tag erwartet uns, den wollen wir doch nicht verpennen, oder“ ?
Es war 5 Uhr morgens, und ihnen taten alle Knochen weh. Sie hatten 10 Minuten um wachzuwerden, auszutreten und ihre Ausrüstung in Ordnung zu bringen. Wer es schaffte, rauchte noch eilig eine Zigarette, dann kam der Befehl zum Antreten. Wie zufällig stellte sich Maurice neben Pete und lächelte ihn von unten an. Der verzog keine Miene.
Heute stand ihnen die letzte Prüfung ihrer Ausbildung bevor und erst, wenn sie übermorgen Abend gemeinsam, als Einheit, das vorgegebene Ziel zu vorgegebener Zeit erreichten, hatte die Schinderei ein Ende.

Der Morgen war angenehm kühl, aber jeder von ihnen wusste, dass sich das in wenigen Stunden ändern würde. Der Sergent-Chef überprüfte bei jedem einzelnen noch einmal sorgfältig die Ausrüstung, zog hier und da noch einen Riemen am Gurtzeug nach oder kontrollierte den festen Sitz des Rucksackes oder der Wasserflasche. Nichts durfte klappern oder gar scheuern, alles musste stramm am Körper sitzen, um seine Männer während des Marsches nicht zu behindern. Nichts war im Einsatz schlimmer als aufgeriebene Hautstellen, die nässten, Insekten anlockten und sich schlimmstenfalls entzündeten. Vom brennen und dem ewigen Juckreiz mal ganz abgesehen.
Auch wenn er während der Ausbildung größtenteils zum kotzen war, seine Männer wussten alle, das er die Aufgabe hatte, sie auf Dinge vorzubereiten, von denen sie jetzt noch gar keine Vorstellung haben konnten. Und auch für den Zugführer ging es bei diesem Marsch um viel. Das Endergebnis würde zeigen, was er seinen Leuten in all den Wochen beigebracht hatte und ob er fähig war, eine Spezialeinheit zu führen.

Das Kommando zum Aufbruch kam. Schweigend gingen sie los und jeder versuchte sich in Gedanken auf das vorzubereiten, was vor ihnen lag. Der einzige, der ihr Ziel kannte, war der Sergent-Chef, aber sie hatten aus Gesprächen mit „alten Hasen“ eine Vorstellung von dem, was auf sie zukam. Es war ein Marsch, quer durchs Gelände, bei 35 Hitze und extrem hoher Luftfeuchtigkeit. Durch Dickicht und Urwald, durch Flüsse und freies Gelände. Mit Spezialeinlagen und Gefechtsschießen. Der Teufel allein wusste, was sich ihre Vorgesetzten für sie ausgedacht hatten. Aber sie würden es schaffen, egal was kommen würde. Davon waren sie alle überzeugt. Auch Maurice hatte sich wieder gefangen und schaute jetzt mürrisch wie immer.
Auch nach 2 Stunden hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Und das änderte sich auch die nächsten Stunden nicht mehr. Sie liefen ihrem Ziel entgegen, mit gleichmäßigen, kurzen Schritten und der immer gleichen Schrittfreqenz, egal auf welchem Untergrund sie sich bewegten oder ob es bergauf oder bergab ging. Auch wenn dieser Marschrhytmus am Anfang ungewohnt war und viel Training erforderte – es war die effektivste Art der Fortbewegung zu Fuß über lange Strecken. Irgendwann stellte sich ein gewisser Automatismus ein, in dem sich gewissermaßen der Geist vom Körper löste und dieser nur noch funktionierte.

Allerdings hielt er es zu diesem Zeitpunkt noch für unmöglich, das er eines Tages beim Laufen auch schlafen würde. Die Sonne stand mittlerweile genau über ihnen und schleuderte ihre Strahlen zur Erde, als ob sie die Menschen, die da unten liefen, mit aller Macht verbrennen wollte.
Nicht darüber nachdenken, sagte er sich immer wieder. Nicht daran denken. Er begann, Rechenaufgaben im Kopf zu lösen, die Namen der Bäume zu bestimmen oder die Vögel zu zählen, die über sie hinwegflogen. Er versuchte sich an Liedtexte zu erinnern und sie ins englische zu übersetzen, nur um nicht daran zu denken, das er einen Liter Wasser an seinem Koppelzeug trug. Er hatte entsetzlichen Durst, der Mund war trocken und die Zunge klebte ihm tatsächlich am Gaumen. Aber noch ging es. Noch funktionierte sein Körper, noch konnte er sich das Wasser für später aufheben, wenn es wirklich schlimm wurde.

Auch von den anderen hatte noch keiner zur Feldflasche gegriffen, also würde er nicht der erste sein. Der Stand der Sonne sagte ihm, das sie seit ungefähr 6 Stunden unterwegs waren und nach Westen liefen. Im Westen war das Meer. Selten genug hatten sie die Möglichkeit gehabt, das Meer zu sehen, seit sie hier waren. Aber an jedem der seltenen freien Tage war er an die Küste gefahren anstatt sich wie die meisten seiner Kameraden zu betrinken. Und jedesmal war er überwältigt von der Größe und Schönheit des indischen Ozeans. Die Wellen brachen mit einer Gewalt und einem donnernden Grollen an den Strand, das ihn sprachlos machte. Er konnte stundenlang dastehen, und aufs Meer hinausschauen, dabei den Wind fühlen und den Wellen zuhören. Immer hatte er das Gefühl, etwas von dieser Größe und Schönheit festhalten und in seinem Herzen einschließen zu müssen. Diese endlose Weite rief etwas in ihm hervor, was er nicht richtig deuten konnte. Fernweh konnte es nicht sein, dazu war er viel zu weit weg von zu Hause, wo immer das auch sein mochte. Ehrfurcht vielleicht. Oder Demut. Die Erkenntnis, selbst winzig klein zu sein, gemessen an der Größe des Ozeans, Traurigkeit... „Seemann hätte ich werden sollen“ schoß ihm plötzlich durch den Kopf, und bei diesem Gedanken huschte ihm ein Lächeln übers Gesicht. Er liebte das Meer.

Das Kommando zum rasten riß ihn aus seinen Gedanken. Augenblicklich waren die Bilder von Meer und Wellen aus seinem Kopf verschwunden. Er war tatsächlich den anderen hinterhergetrottet und hatte geträumt, ohne sich darum zu kümmern was um ihn herum geschah. Er schaute den anderen prüfend ins Gesicht, aber niemand schien etwas bemerkt zu haben. Alle liefen noch ein wenig im Kreis herum, um den Marschrhytmus aus den Beinen zu bekommen und ließen sich dann auf die Erde nieder. Einige schliefen sofort ein, andere dösten vor sich hin oder unterhielten sich leise. Er nahm seine Feldflasche vom Koppel und trank das warme Wasser in ganz kleinen Schlucken. Er spürte förmlich, wie das kleine Rinnsal seine Kehle hinunterlief. Er widerstand der Versuchung, hastig und in großen Zügen zu trinken. Wer weiß, wann sie Gelegenheit hatten ihre Wasserflaschen wieder zu füllen. Also hieß es haushalten.

Er griff in seine Beintasche holte ein Päckchen Benson & Hedges hervor, schnippte eine Zigarette aus der Schachtel und nahm sie zwischen die Lippen. Den ersten Zug zog er ganz tief ein und bließ den Rauch genußvoll in die Luft. Dabei streifte sein Blick den Iren und ihm fiel auf, das Pete nicht rauchte. Er sah ihn fragend an, und als ob Pete ihn verstanden hätte sagte er: „I have forgotten my cigarettes in the base“ Wortlos reichte er seinem Kameraden das Päckchen der sich sofort eine ansteckte sich noch „ein paar für unterwegs“ herausnahm und ihn dabei ansah, als würde er in sein innerstes blicken können. Ein kurzes Grinsen flog über das Gesicht des Rotschopfes, gefolgt von einem „Thank´s, Kraut“. Das war der Punkt, den beide später als Beginn ihrer Freundschaft sahen.

Der Marsch verlief ohne größere Zwischenfälle, wenn man von ein paar Prellungen, Kratzern und offenen Füßen absah und die Tatsache außer acht ließ, das Maurice und er den Briten die letzten Kilometer bis zum Zielpunkt schleppen mussten und dabei selbst bis an ihre Grenzen gingen. Die anderen der Gruppe halfen sich auch gegenseitig, einige trugen zusätzlich zu ihrer Ausrüstung noch die Waffe des Iren oder den Rucksack eines Kameraden, der auch am Ende seiner Kräfte war. Aber keiner musste einen 90-Kilo Mann durch die Pampa schleppen, nur weil dessen Kreislauf irgendwann zusammengeklappt war. Wie sich zeigte, hatte er sein Wasser nicht eingeteilt, sondern am Morgen des zweiten Tages die ganze Flasche auf einmal getrunken. Eigentlich ein unverzeihlicher Anfängerfehler, der einem in diesem Klima das Leben kosten könnte. Aber sie waren eine Einheit, ein Team und allen hatte sich von Anfang an der Leitsatz ins Gehirn gebrannt. Niemand wird zurückgelassen.

Seit diesem Tag sah man Maurice, den Briten und ihn öfter zusammenstehen. Sie begannen, ihre Freizeit miteinander zu verbringen, über Dinge zu sprechen, die vorher tabu waren und sich wirklich kennenzulernen. Maurice versuchte, den beiden anderen wenigstens etwas französisch beizubringen, man war sich aber schnell einig, das es besser wäre, wenn Maurice englisch lernt. So war es dann auch, obwohl der kleine Franzose immer wieder über seinen verletzten Nationalstolz klagte. Er nahm Pete und Maurice an einem freien Sonntag mit ans Meer, und gemeinsam standen sie da und schauten auf den Ozean. Sie gingen schwimmen und maßen ihre Kräfte übermütig mit den Brechern, die an Land rollten und musste einsehen, das sie diesen Gewalten nichts entgegenzusetzen hatten. Pete hatte von irgendwoher irischen Whisky organisiert. Spät am Abend lagen sie an diesem traumhaften und menschenleerem Sandstrand. Sie ließen die Flasche von einem zu anderen gehen, hingen ihren Gedanken nach und fuhren erst nach dem Sonnenuntergang wieder zum Stützpunkt zurück.
Jeder erzählte das von sich, was er wollte. Es gab keine Fragen, nur Antworten. Aber alle hatten sie etwas von den Träumen der anderen erfahren.
Als ihre endgültige Einsatzgruppe zusammengestellt wurde, hoffte jeder für sich, das der andere dabei wäre. So war es dann auch. Und auch als er zum Gruppenführer befördert wurde und plötzlich Pete´s und Maurice´s Vorgesetzter war, änderte sich an ihrem Verhältnis nichts mehr.
Diese Zeit lag jetzt lange zurück. Nicht lange nach dem Ende der Ausbildung, nach einem kurzen Urlaub, wurden sie nachts in eine Transall gesetzt und über Somalia aus dem Flugzeug geworfen.
Sie sollten eine amerikanische Kommandoeinheit bei der Jagd nach einem der gefährlichsten Männer des Landes unterstützen. Für diesen Einsatz war eine Woche vorgesehen. Doch alles kam anders.

Die Amis hatten alles versaut. In völliger Fehleinschätzung der Lage und der tatsächlichen Kräfteverhältnisse entschloss sich das Hauptquartier zu einem Alleingang, der in einem Fiasko endete. Sie stießen mit Hubschraubern und Humvees nach Mogadishu vor und waren sich überhaupt nicht bewusst, das die Männer, die sie jagten, ihr kommen schon lange erwarteten. Mogadishu war voll von Kämpfern und Waffen. Das konnten die Verantwortlichen in ihren dicken Polsterstühlen natürlich nicht sehen. Die Informationen, die sie hatten, stammten von Einheimischen, bei denen niemals sicher war, ob sie nicht für beide Seiten arbeiteten oder absichtlich nichts gehört oder gesehen hatten. Deshalb waren die Amerikaner schon dazu übergegangen, für Informationen erst dann zu bezahlen, wenn sie sich als richtig erwiesen hatten.

Die Amerikaner begannen ihre Mission also allein, ohne auf Unterstützung zu warten. Sie dachten, in 2 Stunden wäre alles erledigt und sie hätten danach den Chef der größten und gefährlichsten Miliz Somalias in ihren Händen. Doch der war vorbereitet und hatte seine Kämpfer in der Stadt zusammengezogen. Gleich am Anfang des Einsatzes wurden zwei Hubschrauber abgeschossen und im Bemühen, die Absturzstelle zu erreichen und zu sichern und ihren Kameraden zu helfen, liefen die Bodentruppen der Amerikaner von einem Hinterhalt in den nächsten. Sie wurden von den Somalis durch die Straßen gehetzt, von den Hausdächern beschossen und mit Raketen und Geschützen angegriffen. Bald reichte der Platz in den Humvees und den LKW nicht mehr für die Verwundeten und Toten und die Marines verschanzten sich zur Nacht in den Gebäuden, die sie sich vorher freikämpfen mussten.

Die schweren Gefechte dauerten einen ganzen Tag lang, die Amis verloren 19 Mann und hatten viele Verwundete, aber was die Welt am Ende mit entsetzten Augen sah und mit einem empörten Aufschrei quittierte – sie hatten an einem Tag fast 1200 Somalis getötet. Am nächsten Tag konnten die Soldaten nur mit der Hilfe von pakistanischen UN-Truppen und nur durch den Einsatz von Panzerfahrzeugen evakuiert werden, was wieder Opfer auf Somalischer Seite brachte und das ohnehin schon ramponierte Ansehen der Blauhelme in diesem Land nicht gerade verbesserte. Nicht lange danach musste der amerikanische Präsident auf den Druck der Öffentlichkeit reagieren, zog sämtliche US-Truppen aus Somalia ab und erklärte die Mission für gescheitert. Fast alle Länder folgten diesem Beispiel und überließen das Land und dessen Menschen den verschiedenen Clans und Milizen, die für den Bürgerkrieg und die dadurch ausgelöste Flüchtlingswelle und die größte Hungersnot auf dem afrikanischen Kontinent überhaupt erst verantwortlich waren. Die Demokratie kapitulierte vor dem Chaos und einer unvorstellbaren Gewalt. Die Ausländer, die im Land blieben, spielten im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Leben und waren vielerorts schlimmen Übergriffen ausgesetzt. Doch noch waren, wenn auch nur vereinzelt, Hilfsorganisationen vor Ort, um wenigstens ein Minimum an Hilfe für die Bevölkerung zu gewährleisten. Aber auch das wurde immer schwieriger.

Genau in dieser Situation befand er sich jetzt. Nach dem Abzug der Amerikaner blieben mehrere Kommandoeinheiten aus verschiedenen Ländern in der Region und operierten von geheimen Basen in Kenia und Äthiopien, vereinzelt auch von Dschibuti aus, in Somalia. Überwiegend um ihre Landsleute irgendwie herauszuholen, aber auch um die großen Flüchtlingslager an den Grenzen zu beschützen und humanitäre Hilfe, sofern sie noch vorhanden war, abzusichern. In Mogadishu selbst gab es rund um das Stadion und den Flughafen eine gesicherte Zone, die von schwachen internationalen und afrikanischen UN Einheiten besetzt war und offiziell zeigen sollte, das die Welt Somalia nicht allein lässt. Die bittere Wirklichkeit sah ganz anders aus. Es war ein Deal zwischen der UNO und den Warlords bei dem Lebensmittel und Dollars gegen Menschenleben erpresst wurden. Nur mit Zustimmung der Clanchefs durfte die UN ein großes Flüchtlingslager unterhalten und bis zu 500000 Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Gegen eine geringe Gebühr, versteht sich. Es war ein Vorteil vieler Verbrecher auf dem afrikanischem Kontinent, das die westlichen Demokratien sehr empfindlich auf ihre toten Soldaten reagierten.

Das alles hatte mit der Welt, in der er sich zur Zeit befand nicht viel zu tun. Offiziell gab es ihn und seine Männer gar nicht. Er war der, der Nachts den Dreck wegräumte. Und ja, er machte es gern.
Zum einen bestand ihr Auftrag darin, „Handelswege“ der Banditen, die im offiziellen Sprachgebrauch „Rebellen“ genannt wurden, zu überwachen und Transporte von geraubten Hilfsgütern nach Äthiopien zu unterbinden, von wo sie als Zahlungsmittel für Waffen weiter nach Uganda oder den Sudan gingen. Auf der selben Route kam dann jede erdenkliche Art von Kriegsgerät wieder ins Land hinein. Von der einfachen Handgranate bis hin zum alten russischen Panzer. Dieser Teil Afrikas war ein Pulverfass, das jeden Moment zu explodieren drohte, und Waffen gab es wie Sand am Meer. Auch im Sudan und Uganda herrschte seit Jahren Bürgerkrieg und auch dort wurden Lebensmittel als Währung eingesetzt.

Ohne es zu wollen heizte die Internationale Gemeinschaft mit ihren Hilfslieferungen das Waffengeschäft erst so richtig an, weil sie nicht in der Lage war, diese Hilfe richtig zu verteilen. Nur ein Bruchteil erreichte die Hungernden. Der größte Teil machte eine kleine Zahl von Verbrechern immer reicher und mächtiger.

Der andere Teil ihrer Aufgabe bestand in der Liquidierung oder Festnahme der schlimmsten Verbrecher und Mörder. Sie waren ständig unterwegs, nie länger als einen Tag an einem Ort um nicht vom Jäger zum gejagten zu werden. Sie wurden nachts aus der Luft versorgt wenn es die Bedingungen zuließen, aber im Grunde waren sie auf sich allein gestellt. Einmal in der Woche suchten sie einen zuvor über Satellitenfunk vereinbarten Treffpunkt auf, um über die neuesten Entwicklungen informiert zu werden und verwundete oder tote Kameraden auszufliegen. Davor war seine kleine Einheit bis jetzt verschont geblieben. Aber alle wussten, das sich das sehr schnell ändern konnte.

Die Rebellenführer hatten ein hohes Kopfgeld auf jeden Weißen in Uniform ausgesetzt, der sich ohne ihre Erlaubnis im Land aufhielt. Sie waren sich der Gefahr bewusst, in die sie sich an jedem Morgen neu begaben, aber einerseits hatten sie es sich so ausgesucht und andererseits...

Heute hatten sie einen guten Job gemacht.

Die Sache mit dem Brief war zwischen beiden im Laufe der Zeit zu einem Ritual geworden.
Irgendwann hatten sie sich über Mädchen unterhalten, ob es welche gäbe, wie lange man sich so kennt ob der andere ein Foto dabei hat und mit wie vielen...Männerkram eben.
Er hatte Pete von seiner Jugendliebe erzählt, einem verrückten, kleinen, schlanken, dunkelhaarigem Mädchen, das sich immer anders kleidete und benahm als der ganze Rest der Mädchen. Wenn alle anderen Turnschuhe schick fanden, trug sie hochhackige, auch wenn sie das noch schlanker machte. Trugen die meisten Mädchen modische Haarspangen, steckte sie sich eine große Blume ins Haar. Und als alle verrückt nach Jeans waren, tauchte sie todsicher im Kleid oder einem schicken Rock auf. Sie war anders als all die anderen Mädchen und das mochte er an ihr. Sie lebte sicher immer noch irgendwo in good old Germany, aber er wusste nicht einmal ob Sie überhaupt noch einen Gedanken an ihn verschwendete.

Er hatte keine Ahnung, wo sie jetzt wohnte, wie sie lebte und was sie machte, und sie wusste noch weniger von ihm. Eigentlich war er sich überhaupt nicht sicher, ob man ein Mädchen als Jugendliebe bezeichnen kann, mit dem man nie etwas hatte. Pete sah ihn ungläubig an und zog eine Augenbraue hoch. „Never“? „Never ever!“ Sie hatten sich eigentlich immer nur von weitem gesehen, ein paar mal miteinander geredet, er hat sie einfach nur süß gefunden und sich zu ihr hingezogen gefühlt. Aber den Mut, es ihr zu sagen hatte er damals nicht. Ein einziges mal sind sie sich doch sehr nahe gekommen. „Aha!“ räusperte sich Pete. „Nix aha“ Da lag sie mit über 40 Grad Fieber im Bett, war leicht komatös und er hatte ihr mit einem kühlen Handtuch und Wadenwickeln zu helfen versucht. Nicht einmal, als er ihr mit dem kalten Waschlappen den Hals und den glühenden Oberkörper kühlen wollte und dafür ihr Hemdchen soweit aufmachte, das ihre kleinen Brüste zum Vorschein kamen, machte sie die Augen auf. Viel mehr Zeit hatte er nicht, um erstaunt zu betrachten was da vor ihm lag, denn die Zimmertür wurde aufgerissen, eine Erzieherin kam herein und schickte ihn sofort hinaus. Sie waren damals fast noch Kinder und in so einer Art Schullandheim. Das war das einzige „intime“ Erlebnis, was sie jemals teilten und trotzdem hatte er immer das Gefühl, das mehr zwischen ihnen beiden sein musste.

Irgendwie wünschte er sich immer, das die Sache mit ihr damals anders gelaufen wäre, und oft stellte er sich vor, wie sie wohl als Paar zusammengepasst hätten. Aber schließlich hat er es versaut. Er lernte eine andere kennen, und dachte, die große Liebe gefunden zu haben. Er zog weg, man verliert sich aus den Augen. Wie das eben so ist.
Aber das Mädchen aus den Jugendtagen ging ihm einfach nicht aus dem Sinn. Was er Pete nicht erzählte war, dass sie manchmal in seinen Träumen vorkam, dass er Angst davor hatte, ihr Gesicht zu vergessen und das er ihre kleinen, weißen Brüste wunderschön fand.

Irgendwann setzte er sich hin und schrieb ihr einen Brief an die letzte ihm bekannte Adresse.
Er schrieb ihr, wie leid es ihm tat, das sie sich nie richtig kennengelernt hatten, das er immer noch an sie denken musste und das er denkt, das sie die Frau ist, die er wirklich liebt. Das er sie wenigstens noch einmal sehen möchte um mit ihr zu reden, ihre Stimme zu hören und in ihre wunderschönen Augen zu sehen. Er schrieb ihr, was er jetzt macht und das er möchte, das sie es als erste erfährt, wenn ihm etwas zustoßen sollte. Er wollte sie einfach nicht im ungewissen lassen, für den Fall, das sie noch an ihn denken sollte. Warum, konnte er nicht erklären. Es war so ein Gefühl.

Diesen Brief gab er Pete vor jedem ihrer Einsätze, mit der Bitte, ihn abzuschicken wenn es Zeit dazu wäre. Und jedesmal nahm der Brite den Brief, und steckte ihn ein, ohne zu vergessen ihm zu sagen, das er hoffnungslos sentimental sei, aber den Brief seinem Mädchen selbst irgendwann geben wird. Bis jetzt schien er Recht zu behalten.

Die Sonne ging auf. In der Ferne war ein tiefes und bedrohliches Vibrieren zu hören, das sich schnell näherte und lauter wurde.
Die Hubschrauber kamen im Tiefstflug über die Savanne gedonnert und zogen dabei eine gigantische Staubwolke hinter sich her. Es waren drei Bell UH-1D „Huey“ , die allein schon durch ihr Fluggeräusch Respekt einflößten. Auch wenn sie schon etwas in die Jahre gekommen war, die Bell war für diese Art von Einsätzen das ideale Fluggerät. Relativ hohe Geschwindigkeit, viel Platz und eine hohe Zuladung machten sie zur ersten Wahl für ihre Missionen. Allein schon das drohende Knallen der Rotoren, das klang wie das Donnergrollen eines gewaltigen Gewitters, vor allem wenn die Bell im Verband geflogen wurde, hatte bei vielen Gegnern schon für feuchte Hosen gesorgt.

Immer wieder bewunderte er die Piloten, die mit ihren Maschinen buchstäblich über Bäume, Hecken und Hügel sprangen, um jede sich bietende Deckung auszunutzen. In der Regel hörte man das Schlagen der Rotoren schon lange, ehe der Hubschrauber wie aus dem nichts vor einem auftauchte und mit einem Höllenlärm schon wieder verschwunden war, bevor man überhaupt reagieren konnte. Die Rotoren wirbelten dabei so viel Dreck und Staub auf, das die Maschinen, wenn sie einmal vorbei waren, wie hinter einer Wand verschwanden. Und der Sog, den sie dabei erzeugten, riss einen im Umkreis von 20 Metern von den Füßen. Das war der beste Schutz vor Angriffen. Jeder Meter, den sie höher flogen, machte sie verwundbarer. Die Bewaffnung der Helikopter bestand aus zwei schwenkbaren Gatling-Maschinenkanonen am Bug und je einem M2HB auf Lafette in den Seitentüren. Nur völlig wahnsinnige wären auf die Idee kommen, sich dieser geballten Feuerkraft in offenem Gelände entgegenzustellen, solange sich die Hubschrauber in der Luft befanden.

Sie hatten die Landezone markiert und gesichert und innerhalb von Sekunden waren die Bell auf dem Boden. Ein paar Männer sprangen aus der letzten Maschine und fingen sofort an, die erbeuteten Hilfsgütern in die Hubschrauber zu laden. Da die Piloten mit laufenden Rotoren warteten, um jederzeit wieder starten zu können, war das keine leichte Aufgabe. Der Dreck, trockenes Gras und wer weiß was noch alles flog ihnen um die Ohren, versperrte die Sicht und machte das atmen schwer. Aber anders ging es nun mal nicht. Auch er und seine Männer packten mit zu, damit sie endlich von diesem Ort verschwinden konnten. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich und arbeiteten deshalb schnell und schweigend, bis die Laderäume voll waren. Das was zurückbleiben musste, hätte ausgereicht ein ganzes Dorf für drei Monate zu ernähren. Es war einfach nur Irrsinn. Ein kurzer Gruß wurde noch gewechselt, dann gaben die Piloten Vollgas, die drei Bell stiegen auf, verharrten einen Augenblick in der Luft, nahmen dann die Nase nach unten und drehten mit dröhnenden Rotoren nach Süden ab. Dieser Anblick begeisterte ihn immer wieder. Es hatte irgendetwas majestätisches an sich.

Ihr Job war erledigt und sie machten sich, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf den Rückweg zu ihren Fahrzeugen. Das bedeutete noch einmal eine Stunde Fußmarsch durch offenes Gelände. Er hatte ein wenig Sorge, das der Kampflärm der Nacht und das weithin wahrnehmbare Erscheinen der Helikopter irgendwo schlafende Hunde geweckt haben könnte, aber er hatte weder von den Piloten eine Meldung über feindliche Bewegungen erhalten noch tat sich in ihrem Blickbereich irgendetwas auffälliges. Trotzdem ließ er ab und zu halt machen und sie suchten die Umgebung sorgfältig mit ihren Feldstechern ab. Alles war ruhig. In der Ferne sahen sie eine Gruppe von Elefanten, die versuchten, an die Früchte der Marulabäume zu kommen und sich dabei so weit streckten, wie es nur irgendwie möglich war. Andere durchsuchten die Fläche unter den Bäumen sorgfältig mit ihren Rüsseln nach den begehrten Früchten. Drei Giraffen liefen in einiger Enfernung an ihnen vorbei und beobachteten sie argwöhnisch. Weiter westlich zog eine Gruppe Kudus langsam nach Süden und wurde von einer Herde der kleinen Speke- Gazellen überholt. Es hätte ein friedliches Bild aus einem Reisekatalog sein können, wenn da nicht immer wieder ausgebrannte Fahrzeuge und die stählerne Hülle eines zerstörten Panzers daran erinnert hätten, was in diesem Land vor sich ging. Menschen hatten das Paradies in eine Hölle verwandelt. Bei einem ihrer ersten Einsätze hatte Maurice, überwältigt von der Schönheit dieser Landschaft, zu ihm gesagt „hier alt werden und sterben“. Das mit dem sterben konnte hier schnell gehen. Das alt werden war schwieriger.

Eine kleine Herde Zebras stand rund um Ihre Fahrzeuge. Die Tiere rochen wahrscheinlich das Wasser, das sie in großen Behältern auf der Ladefläche mitführten, oder die Lebensmittel. Zebras waren verrückt nach Zucker, aber heute würden sie wohl leer ausgehen. Die Herde suchte mit dem charakteristischem Bellen der Zebras das Weite, als sie sich bis auf hundert Meter genähert hatten.
„Merde“ sagte Maurice plötzlich. Er war in einen Haufen Zebraäpfel getreten und verzog missmutig das Gesicht. Im Bemühen, den Dreck von den Sohlen seiner Stiefel zu bekommen, schleuderte er sein rechtes Bein heftig hin und her, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel der Länge nach zu Boden. Ein weiteres „Merde“ war zu vernehmen, diesmal gedämpft, weil Maurice mit dem Gesicht im Dreck lag.. Brüllendes Gelächter folgte. Maurice rappelte sich hoch, nannte seine Kameraden Arschlöcher und fing ebenfalls an zu Lachen. Das ganze war so komisch, das die Männer immer wieder in schallendes Gelächter ausbrachen und sich damit gegenseitig ansteckten. Es war, als fiele die ganze Anspannung der letzten Stunden mit einem Mal von ihnen ab.

„13 Uhr“sagte er und gab damit die Richtung vor, in die Pete fahren sollte. Er hatte wieder den Gesichtsausdruck des kleinen Franzosen vor Augen als dieser zu Boden ging und war nicht in der Lage, sich das Lachen zu verkneifen. „Hier stinkt´s nach Scheiße“ brummte Pete, schaute über die Schulter zu Maurice und prustete los. Der zuckte mit den Schultern und sagte „ steig doch aus, wenn Dir´s nicht passt.“ Das Lachen der Männer war kilometerweit zu hören.

Als sie in der Basis eintrafen, kamen alle Kameraden auf sie zu gerannt, umringten die Fahrzeuge und wollten wissen, ob sie unverletzt und vollzählig zurückgekehrt sind, wie es ihnen geht, und wie der Einsatz verlaufen war. Es war jedes Mal so, egal welches Team gerade eintraf. Zu oft schon kamen nicht alle Männer lebend zurück oder sie hatten Verwundete dabei. In ihrer kleinen Einheit kannten sich alle und jeder Verlust eines Kameraden war wie der Verlust eines Freundes. Jede Rückkehr eines kompletten und gesunden Teams wurde deshalb gefeiert wie ein Sieg. Sie wurden sofort ins Sanitätszelt befohlen, untersucht, wenn nötig wurden kleinere Wunden desinfiziert und größere Verletzungen sofort behandelt. Der Aufwand, den der Doc bei ihnen treiben musste, hielt sich allerdings in Grenzen. Sie hatten wirklich Schwein gehabt und buchstäblich nicht einen Kratzer abbekommen. Sie durften endlich duschen gehen, und sie genossen es. Endlich wieder nach Seife riechen statt nach Affe. Sie spülten sich den Dreck, den Schweiß und das Blut der letzten Tage von der Haut, rasierten sich die Köpfe und all die anderen Haare, in denen sich Ungeziefer ansammeln konnte und fühlten sich wie Menschen. Im Versorgungszelt tauschten sie ihre dreckige Wäsche gegen frische ein und gingen danach quer über den Platz zu Claude. Claude war in Gabun geboren und tiefschwarz. In den 1960er Jahren war er mit seiner Familie nach Frankreich gekommen, hatte sich aber irgendwann mit seiner Frau zerstritten und wollte wieder „heim zu Mama Afrika“, wie er es nannte. Er ging, nur mit ein paar Franc in der Tasche, nach Kenia, wo er sich in den verschiedensten Hotels, Safaricamps und Lodges als Küchenjunge und Aushilfskoch durchschlug.
Wie er allerdings in ihre Einheit gekommen war, wussten nur er und der Colonel.
Im Grunde war es auch völlig egal. Er war ein Typ, der den Laden hier mit seiner Fröhlichkeit freundlicher machte. Wenn man zu Claude ging, vergaß man für die Zeit, in der man bei ihm war, trübsinnige Gedanken. Er scherzte mit allen und als erstes machte er für jeden, der sein Reich betrat, ein kaltes Bier auf. Wenn er lachte, blitzten seine weißen Zähne wie Perlen und seine Fröhlichkeit übertrug sich sofort. Andererseits, und das war es, was die Männer noch mehr an ihm schätzten, hatte er ein sehr feines Gespür für Traurigkeit, konnte einfach nur die Klappe halten und zuhören.

Außerdem war er der Küchenchef der Basis und immer wenn ein Trupp heimkam, hörte man im Küchenzelt geschäftiges Töpfeklappern. Er ließ es sich nicht nehmen, den Heimkehrern ein Willkommensmahl zu bereiten, wie er es nannte. Er zauberte innerhalb kürzester Zeit wirklich leckere Speisen auf den Teller, wobei manchmal nicht ganz klar war, was man da vorgesetzt bekam. Claude war bekannt für seine Experimentierfreudigkeit, aber solange es schmeckte und satt machte, war den Männern egal, woher die Zutaten kamen, ob sie vier, zwei oder gar keine Beine hatten, unter oder über der Erde wohnten oder in der Luft herumschwirrten. Claude war ein Meister seines Faches, wenn es sein musste ging er frühmorgens auf die Jagd und kam gegen Mittag zurück. Mal hatte er eine Kudu - Antilope erlegt, mal ein Warzenschwein, manchmal schleppte er aber auch mit gemeimnisvoller Miene irgendwelche Beutel in sein Zelt in denen sich etwas zu winden schien oder Kisten, in denen es verdächtig raschelte und summte. Bei Claude blieb die Küche nie kalt.
Verglichen mit dem, was sie in den letzten Tagen zu sich genommen hatten war das Essen, das sie heute vorgesetzt bekamen köstlich. Der Koch saß verkehrt herum auf einem Stuhl, hatte sein dickes Kinn auf die Hände gestützt und schaute ihnen beim Essen zu. Man sah in seinen Augen, wie er sich freute, das es den Jungs schmeckte.

Seit über einer Woche lag er das erste mal wieder in einem sauberen Bett. Es war zwar nur ein Feldbett aus Segeltuch, aber es stand in einem Mannschaftszelt mit Holzfußboden, die grüne Bettwäsche duftete frisch und er musste sich keine Gedanken darüber machen, ob er sich seinen Platz mit Schlangen,Skorpionen, Spinnen oder anderem Getier teilen musste. Ein Ventilator hing an der Zeltdecke und verbreitete mit seinem Luftzug angenehme Kühle. In einer Ecke des Zeltes stand ein Kühlschrank mit Bier, Coca-Cola und Wasser, an der gegenüberliegenden Seite befand sich ein einfacher Holztisch mit vier Campingstühlen, Schreibzeug und einem Radio. Die Fenster und der Eingang des Zeltes waren mit Moskitonetzen verhangen. Er fühlte sich wie im Ritz.
Pete lag auf seinem Bett, starrte an die Zeltdecke und fragte durch den Raum „Do you have a notion what we have just eaten?“ „Nein“, sagte er, „ich weiß auch nicht, was uns Claude da vorgesetzt hat. Aber es hat gut geschmeckt und deshalb will ich es auch gar nicht wissen“

Aber Pete gab keine Ruhe. Er zählte alle Tiere auf die er kannte und von denen er annehmen musste, das sie Claude in die Hände gefallen sein könnten. Mehlwürmer, Skorpione, Spinnen, Eidechsen, Mäuse, Ratten, Heuschrecken, Schnecken, Schaben...
Irgendwann reichte es ihm, er stand auf und ging rüber zu Claude. Als er zurückkam, saß Pete mit sorgenvoller Miene auf dem Bett. Er ging zu seinem Freund, hockte sich vor ihn und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Er schaute ihn mit traurigen Augen an und fragte ihn „What is disgusting mostly what you have eaten one day, Pete ?“
„Gekochte Ameisenlarven mit gegrillten Warzenschweineiern“ antwortete der Brite angewidert und in seinen Augen sah man förmlich das „Bitte nicht...“
„Na also“, sagte er und klopfte seinem Freund lachend auf den Bauch. „Dann reg´ Dich nicht wegen ein paar leckerer Eierschlangen mit Reis und Taioba auf. Ich bin müde“

Ohne noch eine Antwort des Briten abzuwarten, legte er sich wieder auf sein Bett und schloss die Augen. Er lag noch eine Weile wach, und seine Gedanken kreisten um die vergangenen Tage. Feuer, Hubschrauber, den Sternenhimmel. Er sah den Sonnenaufgang über der Savanne und Zebras, Elefanten und das Meer... und ein trauriges Mädchen mit einer Blume im Haar, die einen Brief in der Hand hielt.

Er schlief unruhig in dieser Nacht und Träume suchten ihn heim, die einen Buchhalter oder Oberstufenlehrer wahrscheinlich dazu gebracht hätten, das Fenster zu öffnen und in die Tiefe zu springen. Der Junge mit der Kalaschnikow kam darin vor. Männer, die mit schweren Stöcken auf Hungernde einschlugen. Kleine Kinder, die nur noch Skelette waren und deren Mütter mit ausgelaugten Brüsten nicht einmal mehr die Kraft aufbrachten, die Fliegen zu verscheuchen, die zu hunderten auf ihren Babys herumkrochen. Er sah brennende Hütten, verstümmelte Menschen und den Ausdruck in den Augen des letzten Mannes, den er gestern erschossen hatte.
Er sah Claude, der lächelnd auf seinem Stuhl vor ihm saß, während er inmitten von hungrigen Kindern Berge von Hähnchenkeulen verdrückte. Er sah die bittenden Augen der Menschen in den Flüchtlingslagern und wie Bulldozer Massengräber aushoben.
Und er hörte sich rufen „ Ich bin doch nicht schuld an eurem verdammten Krieg“
Und er sah wieder dieses traurige Mädchen, das in einem weißen Kleid bei seinen toten Kameraden unter dem Marulabaum stand und Pete den Brief zurückgeben wollte.

Schweißgebadet wurde er wach und wusste für den Augenblick nicht, was Traum und was Wirklichkeit war. Er schaute zu Pete´s Bett und vernahm erleichtert ein gleichmäßiges, zufriedenes Schnarchen. Pete war also nicht tot. Warum stand er aber dann bei seinen gefallenen Kameraden ?Und woher hatte das Mädchen aus seinen Jugendtagen seinen Brief ? War das ein Traum oder eine düstere Vorahnung ? Irgendwie musste er diese Gedanken aus seinem Kopf bekommen.

Er stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier.
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