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Alt 10.04.2012, 18:44   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Karfreitagstanz

Liebe Babsi,

du weißt ja bereits von Miekes wiedererwachten Gefühlen für mich. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich mich vor diesem Hintergrund schwer damit tat, ihre Einladung zum Gartenfest anzunehmen (ohnehin habe ich genug von Gartenfesten!). Nenn es Freundschaft! Nenn es Tollheit! Nenn es wie du willst! Ich war dort.

Es war ein recht kühler Karfreitag, der meine Überraschung mehrte, wie viele Frauenzimmer sich in dem kleinen Gärtchen versammelten. Mieke war ganz in der Verwirrung verloren, Begrüßungen und Anweisungen zu geben, so dass sie gar nicht bemerkte, wie sie mich gleich zwei mal umarmte. Oder merkte sie es doch? Ich hatte einigen Hunger mitgebracht und so machte ich mich gleich auf zum Grill, begrüßte jeden, der mir im Weg stand und setzte mich mit meinem Mais etwas abseits der Anderen an die überdachte Ecke des Tischs, während Mieke immernoch mit der Begrüßung der Gäste beschäftigt war.

Außer Mieke war mir auf dem Fest niemand bekannt und daher sah ich auch keinen Anlass, mich mitten ins Getümmel zu stürzen (an der anderen Ecke des Tischs begann eine lebhafte Diskussion über recht unbedeutende Dinge; auf der Wiese spielten einige junge Männer Kegeln). Ich aß für mich allein und amüsierte mich an so mancher lustigen Regung, die Einer des öfteren beim Kegeln machte. Doch schon bald - und ich habe keine Erinnerung, wie das Mädchen an meinen Tisch gekommen ist - sprach mich diese wunderschöne junge Frau an. Ihr offenes schwarzes Haar bedeckte halb ihre Augen, die in dem kräftigen Grün des lichtdurchfluteten Efeus am Enkheimer Ried leuchteten, als sie sich zu mir hinbeugte. Und diese wunderschönen, zierlichen Hände - die eine lag stützend vor mir auf dem Tisch, die andere hielt das schwarze Wolljäckchen zusammen.

"Bei dem Wetter setz ich mich lieber zu dir unter's Dach." sagte sie in dem süßesten Ausdrucke, mit dem ein Mensch gleichzeitig Zuneigung zu einem Menschen und Abscheu vor der Kälte offenbaren kann. Ehe ich mir eine gewinnende Antwort zurechtlegen konnte, saß sie neben mir, lächelte mir mit der natürlichen Miene eines empfindsamen Wesens zu und wir kamen sogleich ins Gespräch: "Es ist schrecklich, durch Frankfurt zu gehen! All diese Namenlosen, die dich beobachten, die künstliche Attitüde der Menschen, das Grau! Überhaupt mag ich alles, was natürlich ist, Wälder, Berge, Kinder und Junggebliebene." eröffnete sie mir recht schnell.

Obgleich ich mich deines Ratschlages besann, ich solle fremde Menschen nicht sofort in meine Gefühlswelt stürzen, konnte ich ob der Rührung, die ihre Worte in mir hervorriefen nicht anders als vom warmen Sommerregen zu schwärmen, der mir die Haut herab läuft, sie sanft zu streicheln und der kräftigen Röte des Farnenmeers im nahen Wäldchen im Oktober und von der reinen Empfindung meines Herzens in der Wonne, im Mai in meinem geliebten Wilhemsbad im Park zu liegen, das malerische Schlösschen im Blick und nichts zu tun, als vom Gras und der angenehmen Frühjahrssonne gekitzelt, die Vergänglichkeit zu vergessen. Bald brachte ich in Erfahrung, dass sie Germanistik studiert und stell dir vor - sie schreibt ihre Abschlussarbeit über Eichendorff! Noch ehe ich meine tiefe Verzückung darüber in Worte fassen konnte, hörte ich mich rezitieren:

"Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort"

Oh, wie sie ab dem zweiten Vers einstimmte, so ganz versunken in den verborgenen Welten, die uns umgeben, so spürte ich ohne den geringsten Zweifel, dass das Gedicht für diesen Moment geschrieben wurde. Ach, der Mensch kann von Schönheit nichts wissen, der diesem Augenblick nicht beiwohnte! Wir sahen einander tief in die Augen und es war nichts mehr zu sagen, was wir nicht in der selbstverständlichsten Klarheit gewusst hätten. Es war, als seien Jahre der Vertrautheit und tiefsten Verbundenheit vergangen. Und doch - ganz plötzlich brachte sie die Welt wieder in Bewegung: "Es ist so kalt. Da muss man tanzen!" Sie nahm mich, ach, was bin ich für ein glückliches Kind! an die Hand und wir tanzten an Karfreitag. Übrigens liegt darauf in Frankfurt eine hohe Geldstrafe. Wir tanzten und erfuhren die vollkomene Harmonie zweier Körper miteinander, mit den Rhythmen des Liedes, das uns umgab und dem Gefühl, das uns innewohnte. Wir tanzten und jede Bewegung, jede Empfindung war eine Sünde, begleitet von den argwöhnischen Blicken einer alten Frau, die den Kopf neugierig aus ihrem Fenster reckte und es war uns einerlei. Wir tanzten und ich hatte keine Vorstellung, welche Steigerung des reinen Körpergefühls möglich sein könnte.

Doch was hilft alle Erinnerung, alle Schwärmerei? So schnell und überraschend das alles über mich kam, so schnell ist es verflogen. Mitten in unserem Tanz erhielt sie Nachricht einer offenbar nahestehenden Person und brach sogleich in merklicher Bestürzung aus. Sie zögerte keine Sekunde und ging, ohne sich zu verabschieden von dannen. Als sie um die Hausecke ging, wie sehr wünschte ich mir da, sie möge sich noch ein mal zu mir umdrehen! Vergebens! Und ich, ich stand alleine auf der von uns geschaffenen Tanzfläche und musste ein merkwürdiges Gesicht gemacht haben, so mitleidig, wie mich alle anstarrten.

Keine Möglichkeit hat sie mir gelassen, mit ihr in Kontakt zu treten. Freilich, ich könnte Mieke danach fragen. Unter Freunden ist das kein unsittlicher Wunsch. Allein, ich glaube, sie möchte mehr sein als nur eine Freundin. Da wäre es nicht nur unangebracht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies ein grausames Spiel wäre. Und jetzt sitze ich einsam in meinem ZimCDPhen und klage und frage dich: Was hat mir das gegeben, das mir so viel genommen hat?
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Alt 10.04.2012, 20:05   #2
männlich Ex-Peace
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Beiträge: 3.449

Das ist ein schöner und flüssiger Text, der den Leser
für sich gefangen nimmt.
Ein Werk, das aus zahlreichen Komponenten besteht,
die jeder für sich Kunstgriffe sind.
Sehr schön!
Der letzte Satz...ist vielleicht der letzte Satz des Textes,
doch mit ihm beginnt die Geschichte eines jeden Lesers.

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.04.2012, 21:42   #3
männlich Schmuddelkind
 
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Das freut mich sehr, v.a.:

Zitat:
der den Leser
für sich gefangen nimmt.
denn das hatte ich insgeheim gehofft, zumindest an manchen Stellen.

Zitat:
in Werk, das aus zahlreichen Komponenten besteht
Ja, da habe ich so Einiges ineinander verwoben. Schön, wenn es dir trotzdem gefällt!

Zitat:
Der letzte Satz...ist vielleicht der letzte Satz des Textes,
doch mit ihm beginnt die Geschichte eines jeden Lesers.
Ja, so habe ich gehofft. Freue mich, dass sich in dir meine Erwartungen erfüllen. Der Text hat offensichtlich alles geleistet, was ich mir gewünscht habe.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.04.2012, 23:48   #4
gummibaum
 
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Ich kann Peace nur zustimmen. Bin sehr angetan.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2012, 10:17   #5
männlich Schmuddelkind
 
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Ich bin hocherfreut, gummibaum und Werther-Liebhaber.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2012, 10:25   #6
Thing
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Beiträge: 34.998

Ich stimme mit ein!
Ein wehmütig-süßes Gefühl hat mich beim Lesen übermannt.
Sehr schöner Text, ausgefeilt, geschliffen, kostbar.

LG
Thing
- bewundernd -
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2012, 10:44   #7
männlich Schmuddelkind
 
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Vielen Dank Thing!

Dein Lob ehrt mich sehr. Dass dieses "wehmütig-süße" Gefühl dich übermannt hat, macht mich stolz.

Ich bin gerade dabei, einen Briefroman in diesem Stil zu schreiben. Glaubt ihr, so etwas würde gelesen? Hätte es überhaupt eine Chance, veröffentlicht zu werden?

Ganz liebe, freudige Grüße
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2012, 10:47   #8
Thing
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In diesem Stil?

Jederzeit.
Bedenke lediglich, daß die Leser Geduld aufbringen müssen für lange Prosatexte.
Deswegen evtl. mehr, dafür relativ kurz Briefe. Falls Dir das möglich ist.
Nur eine Anregung!


LG
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2012, 10:59   #9
männlich Schmuddelkind
 
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Ja klar. Es wird so ähnlich sein wie bei Werther, ohne dass ich ihn kopieren möchte. Viele relativ kurze Briefe über einen Zeitraum von mehreren Monaten, die meisten wesentlich kürzer als dieser.

Oh, wie ich mich freue, dass der große Thing solch ein Werk schätzen würde! Das spornt mich an!!!

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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empfindsamkeit, garten, karfreitag

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