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Alt 02.01.2013, 17:16   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Zwischenzeit

Da waren wir - vier junge Männer zwischen zwei Lebensabschnitten, wehmütig über den Verlust der Vergangenheit, aber hoffnungsvoll und fest entschlossen, die Zukunft an uns zu reißen, völlig in der Einzigartigkeit dieses Dazwischenseins aufgegangen. Nach dem Abitur wollten wir noch ein paar Tage der Unbeschwertheit unseres jugendlichen Daseins auskosten, bevor uns der oft angedrohte Ernst des Lebens erreichen sollte und das Wichtigste: gemeinsam! Da bot es sich an, dass meine Großeltern verreisten und uns ihr Haus in der sächsischen Schweiz überlassen haben.

Auf der Fahrt zu diesem aparten Ort sangen wir lauthals zu Nidas indischer Musik, zehrten von den Samosas seiner Mutter, während Georgi und Maddin immer wieder über Filme fachsimpelten. Ich höre ihnen dabei stets gerne zu, denn oft beleuchten sie mir bekannte Filme in einer Tiefe, dass sich mir eine vielfältige Symbolwelt auftut, wo zuvor nur eine selbstverständlich erlebte Handlung war. Abgesehen von dem Singen, gelegentlichen Witzen und meinen berüchtigten Lehrer-Imitationen war ich die meiste Zeit recht still. Zu nachdenklich war ich zu jener Zeit wegen der Ungewissheiten, die das Erwachsenwerden begleiten und zu sehr war ich trunken von den malerischen Landschaften, die wir durchreisten.

Insbesondere als die sommerliche Abendsonne die alles überragenden zerklüfteten Felsen umher in mildes Rot tauchte, war ich sprachlos ob der Schönheit, die kein noch so schöpferischer Geist aus seinem Innersten hervorrufen könnte und die ich beinahe schon vergessen hatte. Felsen, die der Erde zu entfliehen suchen, so unvermutet mächtig, als habe keine Naturgewalt dieses Wunder aus dem Umland erschaffen können, als seien sie aus sich selbst erwachsen, von der magischen Spontaneität eines alles durchdringenden Weltgeistes kündend!

Nach etlichen Stunden Fahrt angekommen, parkte Nida den Passat auf der kleinen Grünfläche vor dem großen, über den hüfthohen Holzzaun einsehbaren Grundstück, das sich vor dem alten, lang gezogenen ockerfarbenen Haus erstreckt und mit allerlei Garten- und Nutzpflanzen bewachsen ist. Ich ging natürlich voran. Dass das Zauntürchen ohne Weiteres zu öffnen war, erschien mir selbstverständlich und so schritten wir über den Pflasterweg hin zu der roten Holztür, durch die hindurch man durch ein kleines Fensterkaro bereits einen Blick in das Innere des Hauses werfen konnte. Wie vereinbart lag der Schlüssel unter der großen Fußmatte und ich konnte nicht umhin zu denken: Hier ist die Welt noch in Ordnung!

Wir machten es uns erst einmal im Wohnzimmer gemütlich. Nida bestand darauf, dass wir den Kamin anmachen sollten und auch wenn keiner von uns eine Ahnung im Umgang mit Kaminen hatte und ich nicht recht wusste, ob das für meine Großeltern in Ordnung sei, haben wir darin irgendwie ein Feuer hinbekommen, ohne das ganze Haus vollzurußen. Vieles war anders: der Ort, die Gesprächsthemen, die sich zunehmend dem Vergangenen widmeten, das doch gerade in diesem Augenblick Teil unserer Gegenwart war. Doch die Vertrautheit, wenn wir beieinander saßen, war noch immer dieselbe wie eh und je, weswegen sich eine Zuversicht unter uns ausbreitete, dass Freundschaft über das Verweilen am gleichen Ort und das regelmäßige Treffen erhaben sei.

Wir stießen mit Cola auf die Freundschaft an (sonst stießen wir immer nur auf alberne Dinge an wie “auf die Kurvendiskussion!” oder “auf das blaue Bild!”) und beschlossen noch vor Mitternacht, dass es Zeit sei, zu Bett zu gehen, da wir uns für den nächsten Morgen eine ausgedehnte Wanderung durch das Gebirge vorgenommen hatten. Ich führte die Jungs über die knarrende Wendeltreppe zum ersten Stock hinauf, wobei Maddin, unser Größter, sich den Kopf an der Decke stieß, was zur allgemeinen Erheiterung beigetragen hat. Der lange, schmale Gang war mir bereits als Kind etwas unheimlich, vermutlich wegen der Enge und des schiefen Teppichbodens, der nach rechts in Richtung der sehr tief angesetzten Dachschräge abfiel. Auf der linken Seite waren die vier Gästezimmer hintereinander aufgereiht und ich zeigte jedem seinen Schlafplatz, Ich selbst nahm schließlich das zweite Zimmer, das ehemalige Kinderzimmer meines Vaters.

Das Licht wollte nicht angehen, aber der Vollmond schien klar durch das der Tür gegenüber liegende Dachfenster und spendete genügend Licht, um mehr als nur Konturen in dem kleinen Räumchen zu sehen. Ich überschaute zunächst von der Tür aus das spartanische Zimmer. Da war bis auf das Bett unter dem Fenster fast nichts, nur das unbarmherzige Ticken der Wanduhr auf der linken Seite und ein Holzschränkchen zu meiner rechten. Als ich jedoch an diesem in Richtung Bett vorüber ging, bemerkte ich eine Clownspuppe dahinter in der Ecke:

In ihrem Blick so steril, doch in ihrer ganzen Erscheinung so unangenehm menschlich. Die weit geöffneten Augen starrten aus dem weißen Gesicht hervor direkt in meine Richtung. Der rot umschminkte Mund… ich weiß nicht, war es ein lachendes oder ein ernstes Gesicht, das von den strohigen Haaren umrahmt war? Als versteckte sie sich geängstigt dort in der Ecke, saß sie in kauernder Haltung, die Beine fast bis zur Brust angewinkelt, während die dünnen, starren Arme die Knie umfassten. Nicht eine Nacht wollte ich in der Gegenwart dieser kühlen Gestalt verbringen und hätte am liebsten mein Zimmer mit Maddin getauscht, der gewiss weniger Angst vor Puppen hat als ich. Aber das wäre doch recht albern gewesen. “Es ist nur eine Puppe.”, erklärte ich mir selbst, zog meinen Schlafanzug an und legte mich ins Bett. Jedoch, die Augen konnte ich kaum länger als eine Minute schließen, bevor meine Furcht mich dazu zwang, wieder in Richtung des Clowns zu schauen. Und diesmal starrte er mir direkt in die Augen, beinahe stolz, über mich triumphierend, meine Angst scheinbar genießend und doch so tot, wie ein Gesichtsausdruck nur sein kann.

Das war zu viel für mich. Ich verließ sofort, wenn auch nicht hastig den Raum, ging den holprigen Flur zurück zum Arbeitszimmer meines Opas, setzte mich an seinen Schreibtisch und wählte seine Handynummer:
“Hallo Opa”, beeilte ich mich, ihm die Gelegenheit verwehrend, sich ordentlich zu melden.
“Ach, Alexander! Na, seid ihr gut angekommen?”
“Ja, aber der Clown dort in der Ecke macht mir ein wenig Angst. Ich wollte fragen, ob es OK wäre, wenn ich in eurem Zimmer schlafe.”
“Welcher Clown?”
“Na, der Clown in der Ecke hinter dem Schränkchen. In Papas ehemaligem Zimmer.”
Mein Opa dachte einen Augenblick nach und befahl mir aufgeschreckt:
“Lauft weg!”
Ich zögerte. Weglaufen? Warum? Wohin? Was meint mein Opa damit? Er schob nun mit ernster Stimme nach:
“Wir haben keinen Clown.”
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2013, 13:27   #2
gummibaum
 
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Ein bisschen E.T.A. klingt an. Anselmus, Nathanael...und während dort Menschen Puppen o.ä. sind, ist es hier umgekehrt.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2013, 20:26   #3
männlich Schmuddelkind
 
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Danke fürs Lesen und die Einordnung!

Ja, gruselig sollte es sein, aber es geht auch um die Angst vor dem Erwachsenwerden und den Unwägbarkeiten zu Beginn einer neuen Lebensphase. Sowohl der Clown als auch die Puppe haben einen Bezug zum Thema Kindheit und irgendwie ist dem Erzähler das mehr als unangenehm. Er flüchtet vor seiner Kindheit (verlässt das Zimmer). Aber er weiß gar nicht, wovor er in Wirklichkeit Angst hat - ein Psychopat, ein mutmaßlich erwachsener Mann also. Erst am Ende, als er von seinem Opa erfährt, dass sie gar keinen Clown haben, wird ihm dies klar.

Diese im wahrsten Sinne des Wortes furchterregende Spannung zwischen Kindheit und Erwachsensein zwischen Lebensfreude und dem zitierten "Ernst des Lebens" kündigt sich in der ganzen einleitenden Handlung an, wo Themen wie "Abitur" (das ja gewisser Maßen einen klaren Zeitpunkt für den Wechsel der Lebensabschnitte darstellt), die "Unbeschwertheit des jugendlichen Daseins", "Freundschaft" (als eine der wenigen Lebenskonstanten) und "Kindheit" aufgegriffen werden. Symbolisch wird der Themenkomplex dann in der eigentlichen Horrorhandlung verdichtet.

Übrigens: Diese Clowns-Psychopaten-Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit aus meinem Bekannten-Kreis.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2013, 20:37   #4
gummibaum
 
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Beiträge: 10.909


Deine Erläuterungen laden mich zum nochmaligen Lesen ein.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2013, 23:12   #5
männlich Schmuddelkind
 
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erwachsen werden, freunde, kinder

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