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Alt 18.07.2014, 17:12   #1
Alive93
 
Dabei seit: 08/2009
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Beiträge: 32


Standard Schlechte Besserung

Wenn Tom die Trillerpfeife hörte, begann sein Blut zu kochen. Nach außen wurde er gleichzeitig sehr ruhig. Das war auch besser so, denn hier im Camp ließ man sich besser nichts anmerken. Er war hier her geschickt worden, weil die Liste seiner begangenen Straftaten in kürzester Zeit immer länger geworden war. Nie waren es große Dinger gewesen, die er gedreht hatte. So kleine Diebstähle hier und da. Nichts Besonderes. „Ich habe doch keinen verletzt“, betonte er immer wieder, wenn man vergebens versuchte, eine Einsicht bei ihm heraus zu kitzeln. Nun im Camp würde alles besser werden, erhofften sich die Eltern. Und nicht nur seine Eltern, sondern die der anderen „Fälle“, wie man sie hier nannte, auch. Zwischen den Eltern der „Fälle“ hatten sich Freundschaften entwickelt und auch im Camp schlossen sich Freundschaften. Gleiches gesinnte sich zu Gleichem. Die Trillerpfeife war wieder zu hören, es war 6 Uhr morgens. Da Tom es in seinem Tiefschlaf überhörte, musste er von einem der Kommandanten aus dem Bett gerollt werden. Er landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Nun war er auch wach geworden. Die anderen standen schon vor ihren Betten mit zu Berge stehenden Haaren, zugekniffenen Augen und blassgelb im Gesicht wie Käse. Er rappelte sich vom Boden auf und nahm die gleiche Stellung ein. Das Tagesprogramm war wie immer unbekannt. Man wusste nur, es würde ungemütlich werden, gerade weil die Sonne schien. „Also mir kommt das immer mehr vor, als wüssten die selbst nicht, warum sie das alles veranstalten“, sagte er zu seinem Bettnachbarn, „ die sind die wirklichen Brutalos, nicht wir!“. Er konnte kaum zu Ende reden, da tönte ein hasserfülltes „Schnauze dahinten!“ von der anderen Seite des Schlafsaals herüber. Die meisten zuckten zusammen, als galt die Botschaft ihnen. Solche Menschen sollten bösartig sein? Ängstlich traf es wohl eher. Die Trillerpfeife ertönte wieder und die jungen Männer traten aus dem Schlafsaal in einen neuen Tag. Auf dem Weg zur Besserung, wie es hieß.

Zum Frühstücken waren nur 10 Minuten geplant und meist blieben noch weniger übrig, denn das Gedränge bei der Platzeinnahme dauerte dafür zu lange. Jeder hatte seinen vorgeschriebenen Platz, an dem er Essen musste. Ein anderer kam nicht in Frage. Das wäre ja noch schöner, wenn jeder sitzen könnte, wo er wollte. Während des Essens wurde der Tagesplan vorgelesen. Man schaute mit kauenden Mund in Richtung Oberkommandanten, der den Ablauf verlas. Ohne Mikrofon, aber er war auch so laut genug. „Stell dir mal vor, das Arschloch würde jetzt noch ein Mikrofon benutzen, dann würde er sich noch besser gefallen!“, sagte Tom, worauf die anderen um ihn herum in Gelächter ausbrachen. „Wenn euch das Programm zu lustig erscheint, müsst ihr es nur sagen“, dröhnte die Stimme durch den Saal. Das Blut begann wieder zu kochen, aber man blieb die Reihe durch still und schlang wieder sein Frühstück runter. Die letzten ruhigen Minuten.

Als erster Tagespunkt stand wie jeden Morgen das Sportprogramm auf dem Plan. Wenn er abends ins Bett ging, zog es ihn schon immer zusammen bei den Gedanken an den nächsten Tag und der Grund war jedes Mal vorwiegend das Sportprogramm. Er zweifelte mittlerweile daran, ob Sport in dieser Art noch gesund sei. Diese Zweifel beschlichen die meisten nicht von ungefähr, denn nicht selten übergab sich der ein oder andere täglich aufgrund von Überanstrengung. Die Kommandanten besaßen keinen Zweifel, dass es nur zum Besten für die jungen Männer war. Schließlich waren sie hier zum Aufbau und zur Besserung, da konnte man nicht immer gleich nachgeben, wenn jemand meinte, er könne nicht mehr. Auch heute war es das alte bekannte Spiel. Draußen ging es zuerst wie immer Runde um Runde um den Sportplatz. Lag einer über der Zeitgrenze für eine Runde, wurde als Strafe eine hinten dran gehangen. Hatte man zuvor zu viel Frühstück gegessen, machte sich das nun bemerkbar. Einige erbrachen sich schon nach den ersten drei Runden. Auch dafür wurde als Strafe eine Runde hinten drangehangen, denn es musste so oder so weitergelaufen werden, ob der Magen nun streikte oder nicht. Nach dem Einlaufen folgte das Hauptprogramm und nach drei Stunden, wenn die Sonne und die Temperaturen ihren höchsten Punkt erreicht hatten, war der erste Programmpunkt des Tages erledigt. „ Mann, wenn ich daran denke, was ich sonst in dieser Zeit immer gemacht habe: Videos im Internet angeguckt, vernünftig gegessen, Pläne geschmiedet und vor allem Karten gelesen. Stadtkarten und Landkarten. Ja!, um Fluchtorte herauszusuchen und Fluchtwege um von dem ganzen Dreck zu Hause zu verschwinden“, träumte er von seiner Zeit vor der Verweisung in das Camp. Wenn er so laut dachte in den winzigen zeitlichen Zwischenräumen, stiegen seine Kumpels meist mit ein und erzählten auch von der guten alten Zeit, als sie noch sie selbst sein konnten. Im Grunde waren sie doch nur hierher geschickt wurden, weil sie sie selbst waren. Hatten sie Hunger auf ein Eis gehabt und hatten mal wieder das Geld von den Eltern nicht bekommen, weil sie in ihren Augen zu faul waren, dann beschafften sie sich eben das Geld auf andere Weise. Es gab immer genug lockere Portemonnaies in der Innenstadt, die einen verlockten. Sie wollten den Leuten ja nichts Böses, sie wollten nur rumlungern und sich hier und da ein zwei Wünsche erfüllen. Die Zeit für Träumereien war knapp bemessen. Eigentlich war gar keine Zeit für solche Gedanken eingeplant gewesen. Sie ergaben sich nur, weil die Kommandanten die Leistungen der einzelnen jungen Kerle in die Akten eintragen mussten, in denen genau protokolliert stand, wer noch mehr durchgenommen werden konnte. Wenn Tom sie dabei beobachtete, wie sie lachten und sich gestikulierend darüber lustig machten, wer sich blöd angestellt oder wer zuerst schlapp gemacht hatte, dann kochte in ihm das Blut wieder hoch, als würde es in den Adern Bläschen schlagen. Aber selbst unter seinen Kumpels zeigte er es nicht und sagte meist nur:“ Ich sehne schon den Tag herbei, an dem wir hier wieder raus sind.!“…“Ja, ich auch!“, sagten dann die anderen. Der einzige Trost während dieser Zeit.

Den Rest des Tages bekamen sie verschiedene Sachen eingetrichtert, z.B. warum es gut sei, wenn man auf Leute hört, die mehr wissen als man selbst oder warum es nur Vorteile hat, wenn man einem Vorbild nacheifert. Wie so ein Vorbild aussehen könnte, wurde den jungen Männern auch gleich anschließend gezeigt. Wenn während dieser Lehrveranstaltung einem der Kerle die Augen zu fielen oder sie vor Erschöpfung eher in den Stühlen hingen als zu sitzen, wurde das stillschweigend von einem der Kommandanten in der Akte vermerkt. Für gewöhnlich zog das Konsequenzen in Form von weniger Essen oder der Verbot vom Gebrauch der warmen Duschen nach sich, was bedeutete, dass man sich draußen mit Wasser aus der Regentonne waschen musste. Das wäre dafür da, so waren sich die Leiter des Camps einig, um mehr mit der Natur in Kontakt zu kommen und dadurch friedlicher zu werden. All dieses Wissen wurde in regelmäßigen Abständen abgefragt. Die meisten wussten die richtigen Antworten zu geben und bekamen daraufhin sogar hier und da mal ein Lächeln von den Kommandanten, was in Wirklichkeit jedoch ein Grinsen war. So richtig die Antworten auch waren, bei den meisten verursachten sie leichte Übelkeit.

Nach der Lehrveranstaltung, die den ganzen Nachmittag dauerte und in der sie zum wiederholten Male das Gleiche wie immer gehört hatten, begab sich die Gruppe wieder in den Speisesaal zur Einnahme des Abendbrots. Was auch immer es gab, es schmeckte allen. Häufig waren alle so ausgezehrt von dem Tagesprogramm, dass sie sich mit dem geschmacklosesten Fraß zufrieden gaben. Als anschließende Abendunterhaltung folgte meist eine Dokumentation über den Werdegang eines der Kommandanten, über die Erfolge und das Können. Spät abends im Bett, nachdem das Licht ausgeschaltet wurde, redete Tom mit seinem Bettnachbarn darüber, wie er sich den weiteren Verlauf seines Lebens vorstellte. „Ich sage dir eins, wenn das hier überstanden ist, dann werde ich mich außerhalb des Gesetzes aufhalten, wo mich keiner mehr belangen kann und keiner etwas von mir verlangt. Ich werde mich auf meine Weise durchschlagen, auf meine Weise“, flüsterte er zu seinem Nachbarn, doch der war schon längst eingeschlafen.
So vergingen die Monate, Tag ein Tag aus. Das Blut brodelte mit der Zeit immer seltener in ihm und die flüchtigen verträumten Gespräche mit seinen Kumpels nahmen auch immer mehr ab. Abends war auch er mittlerweile immer so müde, dass er nicht mal mehr denken konnte, wie sein weiteres Leben nun verlaufen würde. Dann kam der Tag, an dem er und seine Gruppe entlassen wurden. „Meine Herren! Sie haben unser Programm erfolgreich absolviert. Nutzen sie ihre Chance und machen sie was aus ihrer Situation! Die Welt steht ihnen offen! Wir wünschen ihnen viel Glück!“. Das waren die Worte des Oberkommandanten zum Abschied. Tom verabschiedete sich von seinen Kumpels, was sehr förmlich ablief und trat den Weg nach Hause an. Dort angekommen empfingen ihn seine Eltern hoffnungsvoll und nahmen ihn wie früher bei sich auf. Sie fragten sich, ob der Aufenthalt im Camp Wirkung gezeigt hatte und sie sollten nicht enttäuscht werden. Er war ein ganz anderer Mensch als vorher. Als neue Lieblingsvideos sah er nun die Dokumentationen über die Werdegänge seiner ehemaligen Kommandanten und wenn seine Eltern ihn dabei erlebten, wenn sie mal in sein Zimmer kamen, dann sagten sie nur freundlich „ Lass dich nicht stören, mach ruhig weiter!“. Pläne machte er nicht mehr, er wusste auch gar nicht mehr wie das geht. Wünsche hatte er auch nicht mehr und die Portemonnaies blieben wo sie waren. Und auch an Fluchtorte oder Fluchtwege dachte er nicht mehr. Die Stadt- und Landkarten konnte er auch gar nicht mehr richtig lesen.
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Alt 19.07.2014, 22:10   #2
männlich ShAwN
 
Dabei seit: 03/2014
Alter: 24
Beiträge: 5


Gefällt mir sehr gut
Man hätte nur das Ende vielleicht noch etwas ausführen können.
ShAwN ist offline   Mit Zitat antworten
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