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01.03.2023, 17:10 | #1 |
Forumsleitung
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Eine kleine, aber wahre Geschichte
Als meine erste Liebe zerbrach, fand ich Trost bei einer lebenserfahrenen Frau. Sie war Telefonistin, für die ich einsprang, wenn sie zur Toilette gehen musste oder ihre Mittagspause wahrnahm, denn die Zentrale mit den vielen leuchtenden Knöpfen musste immer in Betrieb bleiben. Ich machte diese Arbeit gerne, viel lieber als das stumpfsinnige Hacken auf die Schreibmaschinentasten, das meinen Alltag bestimmte und die immer gleichen Texte produzierte.
Mit Frau Lilberg wurde ich schnell vertraut. Als sie meinen Kummer sah, begann sie unser Gespräch mit den Sätzen: "Der Schmerz lässt nach, aber das braucht Zeit. Ich habe auch nicht meine große Liebe geheiratet." "Warum nicht?", wollte ich wissen. Sie sah mich aus ihren dunklen Augen an, aber ihr Blick ging nicht zu mir, sondern in die Ferne, als sie zu erzählen begann. "Hans und ich waren Sandkastenkinder. Niemals hätten wir uns vorstellen können, getrennt zu werden. Als wir groß und längst verlobt waren, quasi vor unserer Hochzeit standen, kam der Krieg. Hans wurde eingezogen. Er schrieb mir fast jeden Tag. Aber bald, nachdem die Alliierten in den Krieg eingetreten waren, blieb der Briefkasten leer. Es war das erste Mal nach meiner Einsegnung, dass ich an Weihnachten in die Kirche ging und für Hans betete." "Wo hat er gekämpft?" "In Russland. In der 6. Armee. Ich wusste nichts. Nichts über diejenigen, die es bis in die Lager und zum Arbeitsdienst geschafft hatten. Nichts über die Toten, die auf dem Marsch in diese Lager starben und im Eis liegengelassen wurden. Meine Liebe wollte nicht sterben. Ich wartete mit Hoffnung im Herzen, er möge überlebt haben." "Und dann?" "Nun, ich war eine junge Frau. Hans hatte einen Bruder, Konrad, ein Jahr jünger als er, der in mich verliebt war und mich umwarb. Er teilte meinen Kummer, wenngleich auf andere Art. Er sah Hans sehr ähnlich, war aber ernster und stiller als sein Bruder, dessen Temperament wie ein Springbrunnen in die Höhe schoss. Fünf Jahre nach dem Krieg nahm ich Konrads Antrag an, und wir ließen uns trauen. Das Leben musste weitergehen." Während mir Frau Lilberg ihre Geschichte erzählte, nahm sie Anrufe entgegen und stellte sie zu den gewünschten Mitarbeitern durch. "Kinder waren für uns kein Thema. Wir arbeiteten beide für einen angenehm hohen Standard. Ich war mit meinem Leben rundum zufrieden. Und Konrad war ein guter Mann: bodenständig, zuverlässig, offenen Ohrs, überlegt und verständig." Sie machte eine Atempause, ehe sie fortfuhr. "Aber dann kam der Tag." "Welcher Tag?", wollte ich wissen. "Plötzlich stand er vor mir. Hans. Und mein Herz ging in Flammen auf. Er war am Leben! Wir fielen übereinander her, ich und dieses halbverhungerte, ausgemergelte und bis zum Scheintod ausgepumpte Etwas. Ich liebte ihn, obwohl ich wusste, dass er nicht mehr der Mensch sein konnte, der er einmal war. Aber allein die Gewissheit, dass er überlebt hatte, überschwemmte mich mit einer unbeschreiblichen Glückseligkeit." "Aber Sie waren doch verheiratet." "Konrad verstand mich. Er überließ mir, sich von ihm scheiden zu lassen und mir den Weg zu Hans frei zu machen. Und er gab mir Zeit. Keiner von beiden, weder Konrad noch Hans, bedrängte mich. Mein Herz und mein Verstand kämpften eine schwere Schlacht, und als sie vorbei war, entschied ich, an meinem Eheversprechen festzuhalten. Der Weg, den ich mit Konrad gegangen war, erwies sich als zu lang, um ihn wieder zurückzugehen." "Aber Sie waren nicht mehr so glücklich wie vorher?" "Nein, das war ich nicht. Hans heiratete meine beste Freundin, ein Cousine, und es tat weh, sie zusammen zu sehen. Es ist immer noch schlimm, sie beide zu sehen, wenn die Familie sich trifft. Aber das muss ich aushalten." Was für eine starke Frau, dachte ich nach Feierabend auf meinem Weg nach Hause. Und auf einmal wog der Verlust meiner ersten Liebe nicht schwerer als die Feder eines Vogels. 01.02.2023 |
01.03.2023, 18:36 | #2 |
Aha
Liebe Ilka, Maria,
irgendwie sehe ich da einen Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und Deinem Gedicht von gestern: "Der schwerste Tag". Jetzt erklärt sich alles. LG Inka |
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01.03.2023, 20:53 | #3 |
Forumsleitung
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Da gibt es keinen Zusammenhang. Mein Gedicht war reine Erfindung. Die Geschichte ist erlebt.
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02.03.2023, 15:18 | #4 |
Dabei seit: 02/2021
Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
Alter: 60
Beiträge: 1.648
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... eine Geschichte übers Loslassen schön erzählt.
beaux rêves |
Lesezeichen für Eine kleine, aber wahre Geschichte |
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