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05.10.2019, 19:49 | #1 |
Forumsleitung
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Nacht
Anita öffnete die Augen und drehte sich um. Sie hatte von einem großen, dunklen Tier geträumt, das sich einem spielenden Kind näherte, und weil sie nicht erkennen konnte, was für ein Tier es war und ob von ihm Gefahr drohte, wollte sie schreien, um das Kind zu warnen. In diesem Moment war sie wach geworden.
Die Zeiger der Nachttischuhr standen auf kurz nach zwei. Ungehindert von Wolken sandte der Vollmond sein Licht durch das Fenster, so dass Anita die Konturen des Kleiderschranks und ihres Frisiertischs erkennen konnte. Sie zog nie die Übergardinen zu, denn sie wollte auch in der Nacht das Gefühl haben, in Kontakt mit der Außenwelt zu sein. Sie schloss die Augen, um wieder einzuschlafen, doch jäh durchbrach ein Schrei die Stille, der sie erschauern ließ. Er war schrill und lang, als käme er von einem Menschen in großer Not, und unwillkürlich begann Anitas Herz schneller zu schlagen. Beinahe atemlos lauschte sie in die Nacht. Aber der Schrei verebbte, und es war wieder still. Doch diese Stille war anders als zuvor, nicht mehr friedvoll, sondern gespenstisch und verstörend, so dass Anitas Müdigkeit einer angespannten Alarmbereitsschaft gewichen war. Sie stöhnte auf, als sich ihre Befürchtung bewahrheitete: Da war er nochmal, dieser schrille, fast unmenschlich klingende Schrei, der ihr Blut zum Gefrieren brachte und sie ahnen ließ, dass sie nicht allein wegen ihres Traums wachgeworden war. Sie verfluchte ihr scharfes Gehör, das auch im fortgeschrittenen Alter nichts von seiner Wahrnehmungsfähigkeit verloren hatte. Sie wollte nichts hören und sich Gedanken machen müssen, was sich in der Nachbarschaft abspielte. Vielleicht ging es um eine harmlose Angelegenheit, versuchte sie sich zu beruhigen, denn Menschen neigen zu Übertreibungen, und nicht überall, wo Rauch aufsteigt, ist die Ursache gleich ein Inferno. Sollte sie in einem Anfall von Überbesorgnis die Polizei rufen und sich für die Schreie eine einfache Erklärung finden, würde sie sich im gesamten Wohnblock lächerlich machen und möglicherweise die Nachbarn gegen sich aufbringen. Anita sah im Geiste, wie sie an ihr kopfschüttelnd vorübergingen und sich dabei an die Stirn tippten. Beim nächsten Schrei steckte sie den Kopf unter das Federkissen und drückte es so fest auf ihre Ohren, wie sie konnte. In dieser Stellung verharrte sie minutenlang. Nein, nein, nein, was immer sich in diesem Haus oder im Haus nebenan abspielte, sie wollte nichts damit zu tun haben. Sie war nur eine alte Frau, die keine Kraft mehr hatte, sich mit den Leuten anzulegen. Sollten sich doch andere um die Sache kümmern. Sie zog den Kopf unter dem Kissen hervor. Kein Mucks war zu hören. Eine Weile starrte sie bewegungslos auf den Kleiderschrank, um nicht durch das Fenster in die Außenwelt sehen zu müssen, aber es blieb still. Allmählich schlug ihr Herz wieder normal, und sie schlief ein. Um sieben Uhr wachte sie auf und sprang aus dem Bett. Sie hatte die Musik ihres Weckers nicht gehört und glatt verschlafen. Sie ging zum Fenster, um zu lüften, und erschrak, als sie auf der Straße die Ansammlung von Menschen vor dem Nachbarhaus sah. Die meisten waren ihr bekannt. Vor dem Haus parkten ein Polizeiwagen und eine Ambulanz, und ein Polizist war dabei, einem Nachbarn Fragen zu stellen, aber der Mann schüttelte unentwegt den Kopf. Auch bei einer Nachbarin kam nicht nichts weiter als Kopfschütteln heraus, und Anita war klar, was das zu bedeuten hatte. Ihr wurde kalt, als sie zwei Sanitäter mit einer Rollbahre aus dem Haus kommen sah, auf der ein Mensch lag. Sie konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, denn der Körper, den die Sanitäter in die Ambulanz schoben, war bis über den Scheitel mit einem weißen Tuch bedeckt. |
07.10.2019, 14:02 | #2 |
Hallo Ilka-Maria,
ich finde der Text beschreibt sehr gut die Haltung eines Menschen, der eigentlich Hilfe (Polizei anrufen) organisieren müsste, aber aus Angst davor sich lächerlich zu machen oder Ärger zu bekommen, nichts unternimmt. Da muss keine Soziopathie im Spiel sein oder ein Anfall von Misanthropie. Es genügt eine gewisse Überängstlichkeit, und die altbekannte Neigung zur Selbstentschuldung (nur eine alte Frau ohne Kraft für Auseinandersetzungen). Sehr gern gelesen, AlteLyrikerin. P.S.: Kann ich mir sehr gut vorstellen als Einstieg in einen Kriminalroman bzw. eine Kriminalgeschichte, die sich genau mit dieser Problematik auseinandersetzen. |
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07.10.2019, 15:07 | #3 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Ich hatte selbst einmal ein Erlebnis, das mich veranlasste, zur Polizei zu gehen und Meldung zu machen. Hinterher kam ich mir, ohne jemals wieder von der Sache gehört zu haben, lächerlich vor. Ich hatte meinen Sohn zur Schule gefahren, und dort, wo morgens um halbacht kein Mensch über eine ziemlich lange Eisenbahnbrücke geht, lief vor meinem Auto ein herrenloser Hund ohne Halsband über die Straße - direkt in Richtung der Schule. Er sah wie ein Schäferhund aus, war aber kleiner und hatte ein graues Fell. Ich wusste, dass einige Kilometer weiter ein Tierpark war, in dem Wölfe gehalten wurden, und ab und zu war da einer ausgebüchst. Also fuhr ich beim Polizeirevier vorbei und meldete meine Beobachtung. Später, als ich auf der Weiterfahrt zur Arbeit war, kam ich mir ziemlich doof vor. |
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07.10.2019, 17:07 | #4 |
Ja, ob nun Angst oder Unsicherheit, darüber möchte ich gar nicht streiten. Als Ursachen für beides könnte ich mir eine Reihe von Schlüsselerlebnissen denken; Du hast schon einige genannt.
Aber letztlich bleibt doch eine sehr radikale Verweigerung etwas zu unternehmen, obwohl die Schreie andeuten, dass etwas Lebensbedrohliches gerade geschieht. Im besten Fall wird ein Leben gerettet durch einen einfachen Anruf (man muss nicht selbst den Helden spielen), im "schlechtesten" Fall hat man sich lächerlich gemacht. Da rational abzuwägen sollte eigentlich zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Doch scheinen hier Emotionen die Ratio zu übersteuern. Der Text schildert das sehr glaubwürdig, und darum gefällt er mir auch. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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07.10.2019, 18:22 | #5 |
Hallo Ilka,
ich habe die Geschichte gestern schon gelesen und fand sie sehr vorhersehbar. Auch die Botschaft der Geschichte. Sorry, gefällt mir nicht, ist mir zuviel erhobener Zeigefinger. LG DieSilbermöwe |
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07.10.2019, 18:27 | #6 |
Forumsleitung
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07.10.2019, 18:55 | #7 | |
Die Botschaft, dass derjenige sich gefälligst schuldig fühlen soll, der nichts getan hat.
Alte Lyrikerin hat es schon auf den Punkt gebracht: Zitat:
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07.10.2019, 19:12 | #8 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Von Schuld oder Schuldgefühl ist in dem gesamten Text ohnehin nicht die Rede. Er ist eine Verhaltensanlyse ohne jede Wertung. |
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08.10.2019, 06:39 | #9 | ||
Zitat:
Dafür muss nicht explizit gesagt werden, dass in der Geschichte Anita etwas falsch gemacht hat. Am Ende ist jemand tot, weil sie nichts gemacht wird, das wird suggeriert. Dass jemand tot ist, weil ein anderer ein Verbrechen begangen hat, wird völlig außen vor gelassen. Den Kommentaren von AlteLyrikerin entnehme ich übrigens, dass sie über das hier schuldig werden der Protagonistin genauso denkt (sie sieht das im Gegensatz zu mir allerdings als positiven Aspekt der Geschichte), z. B. hier: Zitat:
Spannender und weniger moralinsauer wäre die Geschichte tatsächlich, wenn die Protagonistin Dreck am Stecken hat und die Polizei mit voller Absicht und aus Kalkül nicht ruft. Geändert von DieSilbermöwe (08.10.2019 um 07:52 Uhr) |
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08.10.2019, 09:19 | #10 |
Forumsleitung
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Okay, ich verstehe, was du meinst. Das sind allerdings deine persönlichen Interpretationen. Eine Wertung enthält die Geschichte dennoch nicht. Der Autor soll ja gar nicht spürbar werden.
Ich schau sie mir aber nochmal an, ob ich unbewusst eine Wertung habe einfließen lassen. |
13.10.2019, 12:00 | #11 | |
Zitat:
Warum steigst du mit einem Kind ein, aber nimmst es nicht mit ins Ende? Warum lässt du sie nicht in Unsicherheit, ob unter diesem Tuch ein Kind ist oder ein Erwachsener? Warumd eutest du das nicht als Option an? Du erwähnst im Einstieg explizit ein Kind, das unterfüttert und überzeichnet die Dramatik ungemein. Vorhersehbarkeit ist nicht so schlimm in diesem Fall, da du dennoch ein beklemmendes Gefühl vermittelst, das viele von uns kennen. Aber bei Vorhersehbarkeit wünsche ich mir eine stärkere Ausprägung der Beklemmung, des Dilemmas. |
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