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30.01.2019, 19:07 | #1 |
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Julia
Sie war es.
Ich zweifelte keine Sekunde, sie erkannt zu haben. Sie hatte nicht mehr die knabenhafte Figur jener Tage, war runder und weiblicher geworden, aber immer noch schlank. Und sie trug ihre bevorzugten Farben: eine russisch-grüne Hose, darüber einen Pullover in kräftigem Orange. Ihr kastanienfarbenes, auf der rechten Seite gescheiteltes Haar fiel in weichen Locken auf ihre Schultern – nicht gerade eine modische Frisur, vielmehr der Look einer Hollywood-Göttin der vierziger Jahre. Aber Mode war noch nie Julias Ding gewesen. Sie hatte ihren eigenen Stil, den sie, wie ich sehen konnte, auch nach zwanzig Jahren nicht geändert hatte. Sie schien bemerkt zu haben, dass ich sie von der Seite anstarrte, während sie ihren Einkauf in einem Shopper verstaute: eine Tube Make-up, zwei Lippenstifte, Lidschatten, einen Kajal-Stift. Als hätte jemand ihren Namen gerufen, schaute sie auf und direkt in mein Gesicht. Ich lächelte ihr zu, und sie lächelte scheu zurück, Irritation in den Augen. Einen Moment lang dachte ich, sie hätte mich ebenfalls erkannt, doch sie wandte ihren Blick ab, nahm ihren Shopper und eilte dem Ausgang der Drogerie zu. Ich ging ihr nach. ***** „Willst du mich heiraten, Julia?“ „Sei nicht albern. Du weißt, dass ich David heiraten werde.“ „Aber du schläfst mit mir. Warum?“ „Weil es mir Spaß macht.“ „Du betrügst David.“ „Noch bin ich nicht verheiratet.“ „Warum David? Du liebst ihn doch gar nicht.“ „Er passt zu mir.“ „Aber ich liebe dich. Und du liebst mich.“ Sie setzte das sphinxhafte Lächeln auf, das ich an ihr hasste und ihr am liebsten aus dem Gesicht geprügelt hätte. „Wie naiv du noch bist. Zu einer Ehe gehört mehr als Liebe. Ich glaube du wirst nie erwachsen. Und du wirst keine Frau jemals glücklich machen. Aber ich werde jeden Mann auf dieser Erde glücklich machen.“ Sie schlug die Bettdecke zurück und gab ihren nackten Körper preis. Wir rochen nach dem Schweiß einer durchlebten Nacht und fühlten die feuchten Laken unter unseren Schenkeln. Ich verzichtete auf weitere Argumente und begann in einem neuen Aufflammen von Begehren, ihre Brüste zu streicheln. Doch sie setzte sich auf und schwang sich aus dem Bett. „Ich muss bald gehen.“ Sie raffte ihre Kleidung zusammen und verschwand im Badezimmer. „Happy breakfast,“ rief ich ihr hinterher, denn ich wusste, dass sie mit David in Suzies Café verabredet war. Während ich dem Rauschen des Wassers lauschte, das sie aus der Dusche laufen ließ, malte ich mir tausend Todesarten für sie aus. Am Romantischsten erschien mir, sie im Wahn zu erwürgen, aber als sie aus dem Badezimmer kam und an mein Bett trat, den grazilen Leib in ein smaragdgrünes, enganliegendes Kleid gehüllt, und sich zu mir beugte, um mir einen Abschiedskuss zu geben, wollte sich kein Wahn einstellen. Ich war von den Haarwurzeln bis zu den Zehen ein einziges Bündel verzweifelter Ohnmacht. ***** Sie hatte recht behalten. Alle meine Versuche, eine Frau glücklich zu machen, endeten in einem Desaster. Anfangs wunderte ich mich nicht darüber, dass mich meine Auserwählten eine nach der anderen verließen. Eine Frau spürt den Schatten einer großen, unerfüllten Liebe, die einen Mann ständig begleitet, und wer will für den Rest seines Lebens gegen einen Schatten kämpfen? Einzig Christine hatte sich dieser Herausforderung gestellt, ihre ganze Energie in unsere Beziehung gepackt und mich sogar zum stolzen Vater einer bezaubernden Tochter gemacht, die ich über alles liebe. Aber Christine war nicht Julia, und nach zehn Jahren einer mehr schlechten als rechten Ehe ließen wir uns im Einvernehmen scheiden. ***** Julia betrat das Café und setzte sich an den Tisch am Ende des Panoramafensters. Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen und verwundert, dass es das Café noch gab. Es hieß jetzt nicht mehr „Suzies Café“, sondern dem Zeitgeist entsprechend „Bob’s Coffee Bar“ und hatte ein Fernsehgerät über dem Tresen hängen, in dem ein Sportprogramm lief. Julia gab der Bedienung zu verstehen, mit der Bestellung noch zu warten. Offensichtlich war sie mit jemandem verabredet. David natürlich. Ich hatte ihn vor über zwanzig Jahren nur zweimal gesehen und war gespannt, wie er aussehen mochte. Ob er wie ich an Gewicht zugelegt und an Haaren verloren hatte. Ich erkannte ihn sofort. Er war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, immer noch schlank und mit vollem Haar, das nicht mehr dunkelbraun, sondern weiß-meliert war. Ohne Zweifel war er auch mit fast fünfzig Jahren eine attraktive Erscheinung. Zu meinem Erstaunen ging er nicht in das Café, sondern verharrte außerhalb Julias Sichtweite. Seine Körperhaltung erinnerte mich an einen jener Beschatter, wie ich sie aus den film noires kannte, und ich fühlte eine eigenartige Spannung in mir aufsteigen. Irgendetwas braute sich hier zusammen. Meine innere Stimme sagte mir, dass ich in das Café gehen und mich Julia zu erkennen geben sollte. Mich zu ihr setzen, mit ihr sprechen, mit ihr über alte Zeiten lachen. Oder auch weinen. Was auch immer. Nur bei ihr sein, bei ihr, der großen Liebe meines Lebens. Doch ich regte mich nicht und beobachtete David, wie er dort stand, im Schatten einer Platane, beide Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, regungslos und mit starrem Gesicht. Der dünne, hochaufgeschossene Mann, der das Café betrat, war keine dreißig Jahre alt, trug enge Jeans und einen schwarzen Schlapperpullover. Das Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er schritt schnurstracks auf Julias Tisch zu, beugte sich zu ihr und küsste sie leidenschaftlich, ehe er sich ihr gegenübersetzte. Ein verliebtes, glückliches Paar, schoss es mir durch den Kopf, und ich verspürte einen maßlosen Neid auf diesen Hippie, den ich am liebsten samt seinem Stuhl durch das Panoramafenster gekickt hätte. Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. David näherte sich gemessenen Schrittes dem Café. Aus seiner Manteltasche zog er einen Gegenstand, der mir das Blut gefrieren ließ. Ich wollte schreien, aber mein Mund formte nur den Namen „Julia“, ehe ich mich umdrehte und wie von Geistern gehetzt davonlief. ***** Hätte ich das Drama verhindern können? Vielleicht. Eine klare Antwort wird sich nie greifen lassen. David bekam lebenslänglich. Zweifacher Mord aus niederem Motiv. Noch während der Urteilsverkündung beharrte er darauf, der glücklichste Mann auf Erden zu sein. Julia hatte recht behalten. |
01.02.2019, 19:09 | #2 | |
Liebe Ilka,
ich greife hier mal etwas heraus: Zitat:
Ich will nicht sagen, dass mir diese Beschreibung nicht so gefällt wie sie da steht. Das schon. Aber sie läuft konträr zu Dingen, die ich über das Schreiben gelernt habe. LG DieSilbermöwe |
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01.02.2019, 19:43 | #3 | |
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Zitat:
Gegen Beschreibungen an sich ist nichts einzuwenden, solange sie nicht dominieren. Überhaupt ist "Beschreibung" das falsche Wort, gemeint ist, keine Erklärungen abzuliefern, die sich der Leser selbst erarbeiten kann. |
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01.02.2019, 20:04 | #4 |
Dabei seit: 07/2015
Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
Alter: 41
Beiträge: 5.474
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Stimmt jetz wo Silbermöwe es sagt. Die Beschreibung wirkte irgendwie unnatürlich am Anfang. Ich dachte schon was ist das für Typ, der sowas denkt. Das wirkte eher so, wie etwas das eine Frau denkt.
Er hätte sich vielleicht überlegen können ob sie es wirklich ist. So: Hm, das war doch ihre Lieblingsfarbe, aber ihr Arsch ist runder geworden, richtig Sexy. Ist sie das wirklich? So in der Art meine ich. Aber mir fällt es auch schwer mich in ein Frauenhirn zu versetzen. Ansonsten gefällt es mir. |
01.02.2019, 23:23 | #5 | |
Zitat:
LG DieSilbermöwe |
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01.02.2019, 23:40 | #6 | |
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Zitat:
Aber eines sollte klar sein: Es gibt Handwerk und Handwerksregeln. Die sollte man kennen, wenn man Meister werden will. Ob du später den Nagel mit dem Hammer oder lieber mit der Zange in die Wand kloppst, ist deine Wahl. Aber du musst Zugriff auf deinen Werkzeugkasten haben, um wählen zu können, was richtig ist. Hört sich kompliziert an, ist aber einfach. |
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04.02.2019, 21:01 | #7 |
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Ein einziges Wort in einer Arbeit kann die Glaubwürdigkeit derselben völlig zunichte machen - sehen wir mal: Wir haben eine Person mit unglaublicher sexueller Anziehungskraft ( ... ob man auch einmal etwas anderes als Sexualität verwenden könnte, um einem Text seine nötige Würze zu verleihen?), augenscheinlich ein wandelndes Aphrodisiakum und Männer sind deshalb gewillt, zu morden. David tut das dann auch, er erschießt zwei Personen auf offener Straße, am hellen Tage, in einer Gesellschaft, die den Tod eher aus Erzählungen, als notwendiges Ende denn als brutalen, aufgezwungenen Bruch empfinden und der Protagonist soll sich - konträr zu dem, was er zuvor empfunden hat - durchaus auch die Frage stellen, ob er hätte eingreifen können, ob er den gewaltsamen Tod von zwei Personen hätte verhindern können ... und das nennt er ... "Drama"?!
Ein Mann, von dem wir annehmen müssen, dass er die Verantwortung für Leben oder Tod niemals zuvor in dieser Art und Weise erfahren hat, hat dafür keine besseren Worte übrig als ein Schüler, der sich wundert, ob er das "Drama" um sich als neue Petze hätte vermeiden können. Ich bin der Ansicht, dass dieser Satz ohnehin gestrichen gehört - sollte der Leser, weil das vorhin schon gefallen ist, eine derartige Verantwortung, die der Protagonist u.U. spürt, nicht selbst auch spüren, statt mit einem Satz konfrontiert zu werden, der der vermeintlichen Tragik jede Sprengkraft nimmt, schlimmer, sie ins Tragikomische verkehrt? "Ich habe einen Mord auf offener Straße mit angesehen und ich frage mich - hätte ich das Drama verhindern können? Ja? Nein?! Was meinst du? Na, ist ja auch egal..." Außerdem passt ein derartiger Zwiespalt einfach nicht, wenn vorher etabliert wurde, dass das wandelnde Aphrodisiakum in Männern enorme Aggressionsgefühle auslöst. "Ich möchte ihr ihre Miene aus dem Gesicht prügeln..." - "Ich stelle mir gerne vor, wie ich sie erwürge..." - "Ich werde sie erschießen..." Aber mit einem Male, sowie unser Aphrodisiakum aus der Welt geschafft wurde, stellt sich für den Protagonisten nur die Frage, ob er es denn hätte verhindern können - wie?! Wenn ein andrer Mann vor Gericht behauptet, glücklich zu sein, weil er sich und seine große Liebe von der Seuche, die dieser Hippie dargestellt hat, befreit hat, warum wirkt der Protagonist, der nicht weniger an Aphrodisiakum-Julia gehangen hat, so derb-gleichgültig - mit einem Mal?! Wenn aber die gesamte Einstellung einer Person wegen Nichts (denn wie gesagt: Durch den oben zitierten Satz wird jedwede Tragik sonst wohin katapultiert) so grundlegend geändert wird, dann wirkt die gesamte Geschichte in Retrospektive ... unglaubwürdig. Es wird nämlich nicht etabliert, dass der Protagonist u.U. ein wesentlich beherrschter Mann ist, ein Mann mit Selbstdisziplin und einer Fähigkeit zur Reflektion - eher das Gegenteil: Er ist ebenso besessen von diesem Wesen, er ist zu ähnlichen Aggressionen fähig - oder deren Idee, aber damit fängt es an - und er mag es kaum ertragen, dass ein Anderer an seiner Stelle stehen könnte. Aber mit einem Male, sowie Julia tot ist, stellt sich für ihn richtig beiläufig nur die Frage, was er hätte tun können und begnügt sich dann beiläufig mit einer Feststellung, dass der Mörder verurteilt und noch immer in seinem Wahn befangen ist. Sein Wahn?! - der ist fort, der ist uninteressant, der zählt nicht mehr. Es war einfach ein Drama - passiert jeden Tag, dass ein Mörder verurteilt, dass Leute sterben und dass andere daran Anteil nehmen, egal wie ... es war halt ein Drama ... ach ja, Julia hatte übrigens recht. Sie wird jeden Mann glücklich machen - außer mich (und die Millionen, die sie nie kennengelernt haben), den Protagonisten. Wie bin ich denn glücklich? Mir ist jede Empathie abhold, ich kann meine Einstellung zu Personen, meine Gefühle, meinen Charakter ändern, gerade so, wie's passt. Der da sitzt lebenslänglich im Gefängnis und die Frau, die ich vor kurzem noch sosehr geliebt habe, dass ich ihr meine Daumen in ihre Augen hätte drücken können, ist tot - ja, wie bin ich eigentlich glücklich? Aber: Sie, Julia, hat Recht behalten. Ich hoffe, du siehst, dass das nicht ganz zusammengehen kann, Ilka. Die Wendung, die du dem Ganzen geben willst, verliert sich viel zu sehr in unnötigen Beschreibungen - ganz recht: unnötig ... Zu keinem Zeitpunkt wird klar, was Julia recht eigentlich so anziehend macht und da sind Haare, Fingernägel, die Inhalte von Einkaufswägen, völlig unerheblich, sogar gefährlich - was, wenn ich als Leser diese Anziehungskraft nicht spüren kann, weil du sie in einer Art und Weise beschrieben hast, die mir nichts gibt, nichts geben kann? Die körperliche Beschreibung baut hier Hindernisse auf, der Leser kann sich dann ganz gezielt eine Frau vorstellen und es wird seinem Charakter überlassen, ob er das anziehend findet oder nicht - wenn nicht, dann verliert er sofort einen fundamentalen Bezugspunkt zu dem Protagonisten, dann denkt man sich als Leser nur noch: "Höre er auf zu jammern, zu gaffen und lustvollen Gedanken nachzuhängen!" Das willst du vermeiden - und das tust du, indem du den Körper vergisst und stattdessen zeigst, was sich psychisch abspielt. Julia scheint eine Frau zu sein, die für einen Mann das sein kann, was er unbedingt will, braucht, meint, wollen zu müssen. Sie ist es nicht, sie kann es für ihn sein. Du musst also weniger die Frau Julia als einen Haufen Fleisch beschreiben und stattdessen eine Problematik erschaffen, die sich in dem Protagonisten abspielt. Heißt: Was will der Protagonist? - und ebendas sieht er dann in Julia. Damit ergibt sich ein wesentlich weiteres Feld, dass auszuarbeiten m.E. nach lohnenswerter wäre. Oder anders gesagt: Dein Text verbringt zu viel Zeit im Bett und viel zu wenig im Kopf, viel zu viel Körper, zu wenig Bedeutung des Körpers für den Geist, zu viel Materialismus, zu wenig Sensualismus. Ein Bett, den Akt an sich, das alles kennen wir - aber was mag in dem Kopf des Protagonisten angehen? Wenn man sich für einen realistischen Stil entscheidet, dann muss man diese psychischen Vorstellungen in Handlungen ausdrücken. Und das gelingt hier ... in Maßen. Ich empfehle einen anderen Stil. Du springst in den Text in Bukowski'scher Manier und dann erlahmt der Text an endlosen Beschreibungen, von denen man sich auch am Ende noch immer fragt, was sie denn sollen. Das lässt eine gewisse Blutarmut gleich zu Beginn spüren, die dann schlussendlich alle sexuellen Spannungen, die Aggressionen usw. abdämpft. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Kurzgeschichte in dieser Hinsicht nicht gänzlich die falsche Form ist. Wenn du sie beibehalten willst, dann wäre eine bessere Beschreibung der Intentionen des Protagonisten unerlässlich und die Ausdünnung jedweder physischer Beschreibungen auf das Notwendigste anzuraten - deshalb ist der Mittelteil auch das beste Stück Text dieser Kurzgeschichte. Hier haben wir endlich mal einen kleinen Einblick, wie sich der Protagonist fühlt, was er will, was er denkt - das ist gehört ausgearbeitet. |
04.02.2019, 22:06 | #8 | |
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Auch steht in meiner Geschichte kein Wort darüber, dass der Ich-Erzähler noch etwas für Julia empfindet. Er ist lediglich zu einem unfreiwilligen Beobachter geworden, den teilweise seine Erinnerungen, teilweise auch die Neugier festhält, nämlich spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem der Liebhaber das Café betritt. Psychologisch interpretierst du zu viel in die Geschichte hinein. Wie Menschen in bestimmten Situationen reagieren, ist schwer einschätzbar. Es gibt keine psychologischen Handlungsmuster, die man hundertprozentig vorhersagen könnte. Ich hätte den Ich-Erzähler auch auf viele andere Arten reagieren lassen können, statt ihn davonlaufen zu lassen, weil er sich nicht emotional in eine Geschichte hineinziehen lassen wollte, die für ihn vor vielen Jahren einen Abschluss gefunden hatte. |
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04.02.2019, 22:49 | #9 | ||||
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Wie ist der Protagonist "unfreiwillig" ein Beobachter? Was sorgt dafür, dass er "unfreiwillig" beobachten muss? - wenn du mit solchen Dingen konterst, dann erwarte ich mir durchaus, dass diese Fragen irgendwie durch den Text beantwortet werden können. So wie ich das sehe, werden sie das nicht. Außerdem: "Ein verliebtes, glückliches Paar, schoss es mir durch den Kopf, und ich verspürte einen maßlosen Neid auf diesen Hippie, den ich am liebsten samt seinem Stuhl durch das Panoramafenster gekickt hätte." (aus dem Text selbst) - so soll jemand fühlen, der u.U. keine Gefühle mehr hat. Entschuldige Ilka, aber das kann dieser Absatz beim besten Willen nicht vermitteln. Er vermittelt eher den Eindruck, dass noch immer Gefühle da sind. Wenn, wie du behauptest, nichts mehr von irgendwelchen Emotionen an dieser Stelle steht, wie geht das dann mit radikalem Neid einher? Vielleicht, weil es sich vornehmlich um eine Geschichte handelt, die psychische Prozesse weit mehr zum Gegenstand hat als die Handlungen, die diesen Prozessen folgen? Und vielleicht interpretiere ich "zu viel", weil schlicht zu wenig da ist, dass diesem Anspruch, mit Psychogrammen zu arbeiten (oder deren Fetzen, auch das ist in Ordnung), Genüge tun würde. Zitat:
Nebst der Frage, warum der Protagonist eigentlich zu einem "unfreiwilligen" Beobachter wird, der vielleicht, vielleicht auch keine Emotionen mehr hat, stehen im Raum noch solche Probleme wie: Warum diese apathische Gleichgültigkeit nach geschehener Mordtat? Worin ist sie begründet? Welche Emotionen möchtest du an dieser Stelle vermitteln, was für Eindrücke? Was sieht der Protagonist in Julia überhaupt? Und damit meine ich nicht den Körper oder sexuelle Anziehung, ich meine den Grund, den Ursprung dieser Obsession. Deine Geschichte spielt v.a. mit Emotionen, Gemütszuständen u.ä. - nicht mit einer spannenden Handlung, Praktisches steht hier nicht im Mittelpunkt. Und deterministisch braucht hier nichts zu sein, ich mag es nicht, wenn man mir Worte in den Mund legt: Aber einer logischen Kausalität, einem Zusammenhang müssen die Dinge folgen - das tun sie hier nur bedingt. Und das ist der Punkt. Schönen Abend, Larks |
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05.02.2019, 02:23 | #10 | |
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Zitat:
In einer Kurzgeschichte gibt es keinen auktorialen Erzähler, sondern eine ganz eng gefasste Perspektive. Sie kann vom Ich-Erzähler ausgehen oder von einem außenstehenden Beobachter, fast nie von einem wertenden Erzähler, niemals jedoch vom auktorialen Erzähler. Die Kurzgeschichte untersteht strengen Regeln, die das, was du einforderst, nicht leisten wird. Das gehört in die Welt des Romans. |
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05.02.2019, 08:19 | #11 |
Ich bin von Larkins Ausführungen beeindruckt. Ich konnte mit der Handlung nicht allzu viel anfangen, habe sie teilweise gar nicht verstanden, wusste aber nicht so recht warum (dachte, das läge an mir). Jetzt ist es klarer.
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05.02.2019, 10:41 | #12 |
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Vielleicht ist es wirklich so, dass die Grundidee zu dieser Geschichte eher für eine längere Erzählung taugt. Wenn ich mehr Zeit dafür habe, muss ich die Kommenare noch mal einzeln durchgehen. Offen gesagt hatte ich die Story ziemlich schnell runtergeschrieben.
Danke für die Arbeit, die ihr - insbesondere Larkin - die ihr euch damit gemacht habt. |
05.02.2019, 16:03 | #13 |
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@dr.Frankenstein
Ich habe mir erlaubt, deine Version der Geschichte in einen separaten Faden zu stellen, da sie deinen eigenen Stil hat und nicht als Verbesserungsvorschlag angesehen werden kann. Ich finde, sie sollte als eigenes Werk kommentiert werden. Der Einfachheit halber hier der Link: https://www.poetry.de/showthread.php?t=84327 |
05.02.2019, 18:41 | #14 |
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Ich bin gerade in meinem Autoren-Studienheft nochmal auf folgende Passage gestoßen:
Die große Form, der Roman, spiegelt die Welt wider, Geschehen und Personen entwickeln sich, Handeln wird motiviert (begründet). Die kleinen Formen, Novelle/Erzählung/Kurzgeschichte, konzentrieren sich auf eine Geschichte, erzählen geradlinig und zeigen keine Entwicklung, weder der Figuren noch des Geschehens. Im Vordergrund steht das Handeln der Figuren. |
05.02.2019, 20:07 | #15 | |
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Zitat:
Handlung ist Entwicklung - eine Geschichte ist eine Entwicklung. Eine Kurzgeschichte oder Novelle kann einer nachvollziehbaren Kausalität ebenso wenig abhold sein wie ein Roman. Und diese fehlt v.a. zum Schlusse hin. Und du hast zuvor recht viel darauf verwandt, mir zu erklären, welche Entwicklung dein Protagonist getan hat: von einem im Liebeswahn begriffenen Mann zu einem unfreiwilligen Beobachter. Die Probleme mit dieser Beschreibung haben wir schon besprochen. Die Geradlinigkeit ist ebenso keine unabdingbare Notwendigkeit - ironischerweise fehlt es deiner Geschichte an dieser und ich will gleich zeigen, warum. Allerdings gibt es genügend Kurzgeschichten - z.B. von Bukowski, Dos Passos u.a. -, die keine erkennbare Geradlinigkeit besitzen, deren Segmente nur durch das gleiche Theater verbinden, auf der die einzelnen Handlungen (oder viel eher: Darstellungen) spielen. Das hast du hier auch versucht. Ich zeige es einmal mit einer grafischen Darstellung: Beginn: Erklärung, dass die weibliche Person für den Protagonisten etwas besonderes ist; physische Beschreibungen aller Art. Handlung: Sehen - Nachgehen. * * * 1. Bruch * * Szene in einem Schlafzimmer; kaum Vergewisserung, ob der Protagonist oder die weibliche Person den Personen des Beginns entsprechen; Aggressionsgefühle und erotisch-romantisches Verlangen; Handlung: allerlei Erotisches - Anziehen - Körperpflege - Reden - Liegen * * * 2. Bruch * * Interregnum: Versicherung, dass der Protagonist noch immer der gleiche ist; Lebensgeschichte - die Person des Protagonisten scheitert am Leben (keine Entwicklung? Aber natürlich...) und findet sich damit ab. * * 3. Bruch (An dieser Stelle die Frage: Die Zeitsprünge und Ortswechsel - welchen Effekt sollen sie auf den Leser haben? wie sind die einzelnen Segmente miteinander verbunden, d.h. wie sprechen sie stilistisch miteinander überein, wie greifen sie konzeptionell ineinander über?) * * Höhepunkt: ein Café, der Protagonist beobachtet - er ist irgendwie von einem aktiven, romantischen, im Liebeswahn begriffenen Täter zu einem passiven, sonderbar desinteressierten Beobachter geworden. Dem Leser stellt sich die Frage: Warum? Wie konnte der Liebeswahn überhaupt erst entstehen, wenn er so einfach wieder verschwindet? Anspielung auf einen Mord. Handlung: Arbeit mit irgendwelchen Gegenständen, die als eine Waffe oder etwas Waffenfähiges angedeutet wird - Sitzen - Kaffee trinken - beobachten. * * * 4. Bruch * Ende: Handlung - keine, denn es wird nur berichtet. Ort der Nicht-Handlung - nicht vorhanden; wer weiß, wo der Protagonist berichtet. Feststellung, dass Julia recht hatte, sie würde alle Männer glücklich machen. (Problematisch: ein Mann behauptet, glücklich zu sein - der Protagonist ist irgendwie ... nichts und über den Dritten, den Hippie, wissen wir nichts. [Vielleicht ist er so selbstbeherrscht, dass er Julia um den Finger wickelt?] - wie kann Julia also recht haben?) Aus dieser Darstellung ergeben sich folgende Probleme: - ein Handlungsstrang fehlt, und das ist prinzipiell kein Problem; die Geschichte ist nämlich nicht auf die Handlung konzentriert, sondern auf die psychischen Zustände des Protagonisten. Allerdings sind diese weder konstant noch ergeben sie zusammen eine sinnvolle Symbiose. ---Protagonist verliebt sich -> Protagonist will Julia ganz besitzen, scheitert -> Protagonist entwickelt Gewaltphantasien (bis hierhin ergibt alles einen guten Zusammenhang, es hapert halt an der Ausarbeitung) -> Protagonist führt ein Leben wie Abertausend andere auch -> Protagonist scheint gleichgültig zu werden/zugleich ist alles am Maßstab Julia zu messen -> Protagonist ist Beobachter, dem einerseits alles egal zu sein scheint/andererseits fühlt er Neid, Hemmungen, Furcht -> Protagonist stellt beiläufig die Frage: "Was wäre wenn ich es vermieden hätte?" -> Protagonist behauptet, Julia hätte alle glücklich gemacht -> Protagonist klingt zugleich aber wie ein Schuljunge, dem eine Peinlichkeit unterlaufen ist. -Unschwer ist auch zu erkennen, dass diese Geschichte nicht auf die Handlung heruntergebrochen werden kann. Sonst würde man nur liegen, miteinander schlafen, sich umbringen, Kaffee trinken, heiraten und sich scheiden lassen ... dahinter muss immer etwas stehen. Handlung allein macht keine Geschichte. Du springst viel zu viel herum - mal ist ein Protagonist verliebt, mal phlegmatisch, mal beinahe gewalttätig. Davon folgt aber nichts einer Kausalität, die der Leser nachvollziehen könnte. Wenn du die Geschichte also überarbeiten willst, dann hier meine Ratschläge - nimm sie an oder lass es sein, das bleibt dir überlassen: 1. Überlege dir, ob die vielen Zeitsprünge und Ortswechsel in einem so kurzen Rahmen eher verwirren oder eine bestimmte Stimmung erzeugen; ich sage nicht, dass sie per se abzulehnen sind, aber derartige abrupte Wechsel verwirren Leser sehr, sehr leicht - da muss man aufpassen. 2. Sei versichert: deine Kurzgeschichte ist interessant - und nur interessant - aufgrund der psychischen Zustände und Entwicklungen, die sie darstellt. Also: Beschreibe Julia nicht, was sie ist, stelle sie dar, was sie dem Protagonisten scheint, damit der Leser den Liebeswahn nachvollziehen kann. 3. Was soll deine Geschichte letztendlich für einen Eindruck hinterlassen, was soll die Geschichte wollen - ich glaube nämlich, dass du dir in dieser Hinsicht kaum Gedanken gemacht hast. Wenn du den Protagonisten am Ende sagen lässt, dass Julia recht gehabt habe, sie hätte alle Männer glücklich gemacht - dann muss das für den Leser erkennbar sein. Das ist es jetzt nicht, im Gegenteil. 4. Welchen Charakter soll der Protagonist haben? Es geht nicht nur darum, was du letztlich davon im Text zeigst, sondern was a priori für dich feststeht. Denn da der Protagonist erzählt, ist es von entscheidender Bedeutung, seinen Charakter durch die Erzählung selbst - nicht durch die Handlung! - erkenntlich zu machen. Du hast vielleicht ein Dutzend verschiedene Charaktere, aber nicht einen Konstanten. Wenn ich deiner Argumentation folge, dann könnte der Protagonist, so wie er Julia im Café erblickt, mit einem Male auch rosa Nilpferde durch die Tür reiten sehen und den Kellner für eine Walküre halten, und wären eine Mordtat geschieht, läuft er nicht davon sondern tanzt auf den Tischen umher und schreit, dass er ein Echsenkönig sei und alles tun könne. Es würde keinen Sinn machen, keine Entwicklung im weiteren Sinne geben, im Vordergrund würde die Handlung stehen - man würde sagen: Ich verstehe es nicht. Dann wäre deine Antwort immer noch: Psychische Vorgänge kann man nicht determinieren, der Protagonist hatte halt einen an der Waffel. Ich hoffe, du kannst diese Anmerkungen für eine eventuelle Überarbeitung verwenden. (Sonst hab ich mir die ganze Schreibarbeit umsonst gemacht...Aber gut, kritisieren ist immer leichter als schaffen.) Noch ein letztes Wort: Prosa zu schreiben ist grundlegend verschieden davon, Lyrik zu verfassen. Hier wird andauernd nach einer Systematik gesucht, die einer Geschichte zugrunde gelegt werden kann, wie eine bestimmte Versform einem Gedicht. Aber das wird nicht funktionieren, die Prosa ist nämlich viel flexibler was ihre stilistischen Mittel anbelangt und in vielerlei Hinsicht auch wesentlich breiter gefächert. Schiller hatte den Roman als wesentlich "un-lyrischer" eingestuft und auch Kleist hat seine Erzählungen nicht zu seinem Magnum Opus gerechnet. Das liegt nicht zuletzt an einem klassischen Verständnis der Literatur - griechisch: strenge Regeln der Lyrik, denen man sich zu unterwerfen hat, um durch diese Unterwürfigkeit künstlerische Größe zu erschaffen. Der Roman, die Erzählung usw. haben diese Regelstrenge nicht, sie entwickeln sich viel mehr gemäß ihren Inhalt als ihrer Versform. Ich habe ein schwermütiges, warmes oder trauriges Thema - ich kann eine Elegie wählen, um sie lyrisch auszudrücken. Ich habe keine feste Struktur, die mich dieses Gebiet in einem Roman o.ä. erkunden lässt - ich muss diese Wahl selbst treffen. Nach welcher Maßgabe diese Wahl zu treffen ist - das kann kein Lehrbuch dieser Welt vermitteln... Geändert von Ex-Larkin (05.02.2019 um 20:33 Uhr) Grund: Kleine Ergänzung |
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05.02.2019, 22:51 | #16 | |
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Es stimmt nicht, dass Kohlhaas eine Entwicklung durchgemacht hat. Er bestand von Anfang an auf seinem Recht und ging damit stur bis zum bitteren Ende, zahlte sogar den höchsten Preis dafür, Recht zu bekommen. Wo ist da eine Entwicklung? Ich sehe ihn in der Zwangsjacke der Rechthaberei, aus der er sich nicht befreien konnte. Die Marquise von O. zeigte auch keine Entwicklung. Sie wurde geschwängert und setzte die skandalöse Handlung in Gang, öffentlich den Vater des Kindes ausfindig zu machen, weil sie keine andere Lösung wusste. Was hätte sie zu verlieren gehabt? Sie ist am Ende der Novelle noch dieselbe unveränderte Person wie am Anfang. Was du forderst, Larkin, ist den auktorialen Erzähler, der alles weiß, wie ein Gott über allem thront, in jedes Gehirn heinschauen kann und die Gefühlsregungen all seiner Figuren kennt. Das ist jedoch typisch für den Roman. Ich habe gerade die Aufgabe gehabt, eine Kurzgeschichte über ein vorgegebenes Thema zu schreiben. Dafür durfte ich nicht mehr als 5.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) verwenden, das ergibt ca. zwei Din-A-4-Seiten. Das Thema war komplex und hätte durchaus für einen Kurzroman gereicht. Um die Geschichte kurz zu halten, musste ich jedoch auf eine andere Perspektive zurückgreifen als auf die des auktorialen Erzählers, nämlich auf die Sicht eines in die Geschichte involvierten, neutralen Protagonisten, der nur weiß, was er im Augenblick sieht. Kurzgeschichten, Erzählungen und Novellan arbeiten nichts aus. Deshalb hat Hemingway kein Urteil über den alten Mann abgegeben, der denSchwertfisch gefangen und an die Haie verloren hat. Er hat nur die Handlung geschildert. Und dann ist der alte Mann einfach gestoren. |
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05.02.2019, 23:44 | #17 | |||||||
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Wo ist da keine Entwicklung? Zitat:
Heinrich von Kleist beschreibt, wie der Krieg einen Menschen brutalisieren kann, wie hier den Grafen, der zum Vergewaltiger wird. Werden heißt Entwicklung. Im Grunde handelt es sich bei ihm jedoch um einen moralisch-ethischen Menschen, da er die Marquise aufrichtig liebt und sich verpflichtet sieht, sie zu heiraten; doch die Triebe übermannen den Grafen in der Novelle (im Übrigen hat Kleist die Marquise von O... niemals als solche bezeichnet) mehrmals und das kann nur bedeuten, dass er immer wieder vor der Entscheidung steht, diesen Trieben nachzugeben oder ihnen Herr zu werden. Diese Entscheidung wird auch gefällt - warum? wie? Das heißt man Entwicklung. Zitat:
Deine Geschichte muss Sinn machen - ich spreche nicht von einem auktorialen Erzähler, ich spreche von charakterlicher Kongruenz mit der sich der Leser irgendwie identifizieren kann. Warum, glaubst du, schreiben ich oder die Silbermöwe, dass deine Geschichte verwirrend ist?! Weil diese Kongruenz fehlt und beileibe nicht genügend Gedanken in die Bedeutung der Charaktere und ihre Konstitution geflossen ist. In summa: Du schreibst eine Geschichte, die v.a. psychologisch orientiert ist und machst es mir dann zum Vorwurf, dass ich sie psychologisch interpretiere und kritisiere. Man kann sich mit deinem Protagonisten nicht oder nur sehr schlecht identifizieren, er wirkt wie zehn verschiedene Charaktere, nicht wie einer. Ich rede nicht von einem Erzähler - ob auktorial oder autistisch -, ich spreche von meiner Involvierung als Leser, Immersion, die fehlt, weil der Protagonist nicht ausgearbeitet genug ist. Zitat:
Zitat:
Aussagen aus jener Zeit, die den Roman gegenüber der Dramatik und Lyrik abwerten, finden sich auch bei Schiller u.a. Schiller hat seine Erzählungen und Geschichtswerke, und seinen Roman "Geisterseher", für den finanziellen Gewinn geschrieben, sein künstlerisches Hauptaugenmerk galt der Dramatik und Lyrik. Ich denke aber, dass du mir zustimmen wirst, wenn ich sage, dass diese Urteile beider Autoren den Wert und die Größe ihres erzählerischen Werkes in keiner Weise mindern. Zitat:
Ich rede auch nicht von Wertung - wo habe ich etwas von Wertung geschrieben?! Aber ich muss den Protagonisten-Erzähler in seinem Handeln nachvollziehen können und das hat immer Gründe. Den alten Mann verstehe ich in seinen Handlungen, ich kann sie aus Relationen, Umständen usw. heraus in ihren Beweggründen erkennen, ich kann aber nicht erkennen, woher das Phlegma deines Protagonisten kommt, woher die Gleichgültigkeit, woher der Liebeswahn. Dinge müssen Sinn machen - der Liebeswahn der Penthesilea, ein Gefühlsausbruch, wie gerade Kleist ihn so meisterlich beschreiben konnte, ist der Grund für ihre Raserei am Ende des Stücks, für ihr gewaltiges Schlachten. Die Wandlungen deines Protagonisten wirken "grund-los", einfach hingesetzt. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?! Möchtest du mir sagen, dass eine Geschichte keine Zusammenhänge bräuchte, dass ein Leser solcher Relationen gar nicht bedürfe, dass mithin eine Kurzgeschichte/Novelle/Erzählung in langweiligerer Manier als jedes Studienwerk der Geschichte einfach nur Ereignisse herunterleiert?! - sicher nicht. Eine Geschichte - egal welcher Form - braucht Denkarbeit. Viel Denkarbeit. Keine Lehrbuchdefinitionen, die können nur das Auge für Stilistik, Konzeption usw. schärfen. Die Arbeit, die konzeptionelle Arbeit an einem Text beginnt lange vor dem eigentlichen Schreiben, sie beginnt vor allen Notizen - als Autor stehst du gegenüber dem Leser in der Verpflichtung, zu wissen, was du mit deiner Geschichte recht eigentlich bezwecken willst. Ist das nicht der Fall, dann muss man noch einmal ordentlich über die gesamte Symbiose von Text, Inhalt, Stilistik usw. nachdenken. Es ist nicht wie mit Gedichten, die eine spezielle Struktur anbieten - diese muss man in der Prosa selbst schaffen. Das, diese Symbiose aller Gebiete - Inhalt, Stilistik, Struktur, Darstellungsmittel - zu erschaffen, ist die große Herausforderung an einem Text, egal ob Roman, Novelle, Erzählung u.ä. Schönen Abend, Larks Nachtrag: Wenn sie nichts ausarbeiten, dann wär es für Kleist kaum möglich gewesen, seine Erzählungen u.a. als moralische Erzählungen zu verstehen - durch einen Widerspruch, eine Begebenheit, eine Geschichte, wird ein ethischer Standpunkt herausgearbeitet. Andernfalls wäre die Frage, wie weit darf Gerechtigkeit gehen, wie weit darf man gehen, um Recht einzufordern, die im Kohlhaas und durch den Kohlhaas gestellt wird, in Form einer Novelle gar nicht vorstellbar. Aber der Kohlhaas existiert. Wenn eine Novelle, eine Kurzgeschichte, eine Erzählung gar nichts ausarbeitet, dann sollte es sie gar nicht geben. Sie wären allesamt wertlos, in jeder Hinsicht. Geändert von Ex-Larkin (05.02.2019 um 23:53 Uhr) Grund: Nachtrag |
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06.02.2019, 08:06 | #18 | |
Ich finde diese Diskussion hochinteressant. Jetzt - nach Larkins letztem Beitrag - ist mir auch klar, warum ich die Geschichte nicht so richtig verstanden habe (in meinem ersten Kommentar hier bin ich deswegen auch gar nicht auf die Geschichte selbst, sondern nur auf das Beispiel einer Beschreibung einer Figur eingegangen. Für die Handlung an sich war das ja eigentlich relativ unwichtig, für mich selbst aber interessant. Und wer gibt schon gerne zu, dass er etwas nicht verstanden hat).
Inzwischen ist mir klar geworden, was ich warum nicht verstanden habe: Die Hauptfigur, der Ich-Erzähler, handelt überhaupt nicht. Er lässt alles mit sich geschehen und bleibt passiv. Quasi aus dem Nichts taucht eine Nebenfigur als einzig handelnde Figur von allen Protagonisten der Geschichte auf, von der der Leser eigentlich gar nichts weiß, auch nicht, warum er tut, was er tut. Die Nebenfigur handelt - und wie - und die Hauptfigur steht nur daneben und glotzt, beschreibt noch nicht einmal, wie er sich dabei fühlt. Von David erfährt der Leser am Ende, wie er sich fühlt. Warum ist eigentlich dann David nicht die Hauptfigur? Das passt nämlich nicht zusammen. Ilka, du wolltest ja sicher aus der Perspektive des neutralen Erzählers schreiben. Das kann ich zwar erkennen, jedoch fehlen die Zusammenhänge, genau wie Larkin es schreibt. Ich finde, aus der Sicht des neutralen Erzählers zu schreiben ist sehr schwer. Ich finde es super, dass du das Experiment gemacht hast, ich nehme eine Menge aus diesem Beispiel und Larkins Kritik mit. Noch etwas: Dieser ganze Abschnitt Zitat:
LG DieSilbermöwe |
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06.02.2019, 10:13 | #19 |
Forumsleitung
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[QUOTE=DieSilbermöwe;509769
Die Hauptfigur, der Ich-Erzähler, handelt überhaupt nicht. Er lässt alles mit sich geschehen und bleibt passiv. [/QUOTE] Weder der Ich-Erzähler, noch David sind die Protagonisten. Meine Geschichte weist Parallelen zu dem Film "Die barfügige Gräfin" auf. Dort ist Humphrey Bogart der außenstehende, beobachtende Erzähler. Auch in dieser Geschichte wird die Protagonistin wegen ihrer Untreue von ihrem Mann getötet. |
06.02.2019, 13:13 | #20 | |
Zitat:
Du willst damit sagen, Julia ist die einzige Protagonistin? Dann bin ich wieder soweit wie am Anfang und verstehe nichts. Denn Julia erzählt nichts und der Leser erfährt auch nichts von ihr außer dass ihr alle Männer verfallen sind. Den Film mit Humphrey Bogart kenne ich jetzt nicht, aber ich weiß, dass Filme, wo ein Erzähler auftritt und man die Figuren quasi vor ihm auftreten lässt, mir meistens nicht gefallen (weil ich den Sinn dahinter bisher nicht verstanden habe und sie meist langweilig fand). Ich wusste nicht, dass das eine eigene Kunstform ist. Eine Ausnahme fällt mir ein, ein Film, der mir trotzdem gefallen hat. Das ist ein Film eines spanischen Regisseurs. Ich suche ihn mal gerade. Edit: Hab ihn nicht gefunden, ich weiß den Titel nicht mehr, nur noch, dass er mit Penelope Cruz war und der Regisseur war Pedro Almodovar. |
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06.02.2019, 15:40 | #21 | |||
Forumsleitung
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Zitat:
Zitat:
2. Ich finde, dass der Leser eine ganze Menge über Julia erfährt: Sie ist attraktiv, sie entscheidet aus rationalen Gründen, wen sie heiratet, sie bleibt selbstbestimmt, indem sie sich auf eine Affäre einlässt, hat ein hohes Maß an Selbstvertrauen usw. Zitat:
Als Roman, der sich der Perspektive des außenstehenden Beobachters bedient, fällt mir "Der große Gatsby" von Scott Fitzgerald ein: Gatsbys unglückliche Liebesgeschichte wird von seinem Nachbarn erzählt. |
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