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03.07.2018, 13:30 | #1 |
Mit offenem Visier
Ich heiße Damaris Meyer, stamme aus einem Dorf in Sachsen und bin Krankenschwester, keine Berufene, sondern berufswegen. Hätte ich meiner Berufung folgen können, wäre ich Missionarin geworden. Kreuz und quer durch die Welt düsen und mit Menschen reden, das kann ich richtig gut. Leider hat mich die DDR, trotz meiner religiösen Überzeugung nicht rausgelassen, womit die kirchliche Laufbahn ihren Reiz für mich verloren hatte. Nun wäre ich gerne Lehrerin geworden, das wurde mir wegen meiner religiösen Überzeugung verwehrt. Ich wünschte mir einen Beruf, der nahe am Menschen ist. Der Weg in die Pflege stand Christen offen, auch 1986 wurde Nachwuchs in dieser Sparte gesucht. Als Tochter einer Krankenschwester hatte ich bereits in das Metier hinein geschnüffelt. Kamen doch die Dorfbewohner bei gesundheitlichen Problemen häufig zu uns ins Haus. Ich bewunderte meine Mutter, wie sie blutige Zerstörung mit blütenweißen Verbänden bedeckte, angespannte Minen entspannte und ihnen ein Lächeln entlockte. Dieses Lächeln, was zurück kommt, das soll unser Lohn sein.
Ehrlich gesagt, mache ich meinen Job für Geld, was sich hinsichtlich der Unterbezahlung dieses sozialen Berufes seltsam anhören mag. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich lache gern, bin eine notorische Lächlerin trotz meines Berufes mit schlechten Arbeitsbedingungen, hoher körperlicher und emotionaler Belastung, gesellschaftlicher und politischer Geringschätzung. Letztere kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Politiker und Arbeitgeber der Gesellschaft vermitteln, jeder könne pflegen, Frauen seien sogar natürlicherweise prädestiniert dafür. Massenentlassungen der Schlecker-Frauen? Ab in die Pflege. Langzeitarbeitslosigkeit? Pflege gibt dir eine Chance, auch wenn dein Zeugnis noch so schlecht ist. Du willst ein Held sein? Die Pflege wartet auf dich! Kein Wunder, dass das gesellschaftliche Bild der Pflege zwischen Mitleid und Perversion schwankt. Krankenschwestern werden als leidensfähige Engel oder als Ärzten hinterherhechelnde Schlampen gesehen, die Randgruppe der Krankenpfleger als unmännlich abgestempelt. Nicht schlau genug fürs Medizinstudium sind wir eben nur die Handlanger der Halbgötter in Weiß? Nein, Pflege ist eine eigene Profession, das Handwerk, auf dem das Gesundheitswesen basiert. Ich wollte nie Ärztin werden, ich möchte neben den Patienten stehen, nicht über ihnen. Wir sind die, die vierundzwanzig Stunden am Menschen dran sind, die Vertrauten, die Vermittler, die mehr wissen, als die Befunde aussagen. Wir bekommen es hautnah mit, wie es den Patienten geht. Keine Emotion ist uns fremd. Menschen werden durch Krankheit nicht liebenswerter, ihr Charisma spitzt sich in der Extremsituation des Gesundheitsverlustes zu. Wir betreuen die ganze Bandbreite von sympathischen bis unangenehmen Zeitgenossen, professionell, auch wenn kein Lächeln zurückkommt. Gerechte Entlohnung wäre der erste Schritt, Menschen für eine Pflegeausbildung zu begeistern, denn mit dieser steht und fällt die Anerkennung unserer Gesellschaft. Um die Pflegenden im Beruf zu halten, brauchen wir, als größte Gruppe des Gesundheitswesens, endlich unsere eigene bundesweite politische Vertretung, die Pflegekammer. Die Organisation der Pflege in Deutschland befindet sich auf dem Stand eines Entwicklungslandes und muss erneuert werden. Schauen wir über den Tellerrand, sind wir doch umgeben von Ländern, die es besser machen. Wir brauchen nicht nur eine weitere Akademisierung der Pflege, auch eine Struktur, die dieser Raum in der Praxis gibt für echte Karrierechancen und deren finanzielle Anerkennung. In welcher anderen Sparte verdient eine Führungskraft teilweise sogar weniger als ihre Untergebenen im Drei-Schicht-System? Wo, außer in sozialen Berufen, zahlen sich Fortbildungen nicht bis unwesentlich aus? Ich bin Fachkrankenschwester für Rehabilitation, Fachkrankenschwester für Onkologie und Palliativpflege, Painnurse, Praxisanleiterin, Hygienefachkraft, habe also circa acht Jahre Ausbildung hinter mir, verrichte aber auf einer Allgemeinstation größtenteils die gleichen Arbeiten wie eine Hilfskraft unter der Hand. Nun arbeite ich auf einer Spezialstation, der Knochenmarktransplantationseinheit, das könnte ich auch ohne jegliche Weiterbildung. Der Anreiz zur Qualifikation beruht ausschließlich auf eigenem Ehrgeiz, was sehr differenzierte Pflegeleistungen zur Folge hat. Wir alle erledigen nebenher Servicearbeiten wie Essensversorgung, Betten beziehen, Oberflächendesinfektion. Wenn der Fußboden mit menschlichen Sekreten verschmutzt ist, müssen wir diese entfernen, bevor die Reinigungskraft diesen desinfiziert, ohne dass uns dafür spezielle Werkzeuge zur Verfügung stünden. Wir haben anscheinend das besondere Händchen dafür. Nennen sie mir eine andere Berufsgruppe, die mit mindestens drei-jähriger Ausbildung den Boden für den Reinigungsdienst von Kot, Urin, Blut, Erbrochenem säubert, und erzählen Sie mir, dass das keine negativen Auswirkungen auf das Bild der Pflege in der Öffentlichkeit nach sich zieht. Trotz alledem liebe ich meinen Beruf. Das sage ich nicht, um keinen Zwergenaufstand anzuzetteln, mich nicht durch Permanent-Jammern weiterhin schuldig am Pflegenotstand zu machen, auch nicht, weil uns ein ehemaliger Gesundheitsminister dazu aufgefordert hat. Nein, dieser Beruf hat mir viel gegeben: die Dankbarkeit für Gesundheit und das Bewusstsein für deren mögliche Flüchtigkeit konnte ich lernen, ohne bedrohlich zu erkranken. Der Beruf hat mich geformt, gebildet, menschlich reifen lassen. Er hat mir aber auch viel genommen: meinen Biorhythmus (Irgendwann muss ich einen gehabt haben.), Beziehungen zu Menschen mit Büroarbeitszeiten, Scham- und Ekelhemmschwellen, meine Unbeschwertheit. In mir ist eine bodenlose Gruft voll unerlöster Trauer. Auf Knopfdruck kann ich in Tränen ausbrechen. Für mein Hobby als Schauspielerin ist das sehr nützlich. Ich bin ein professionelles Opfer. Unmittelbar nach dem Weinen fühle ich mich glücklich wie eine Süchtige auf dem Trip, doch die Gruft ist nicht leerer geworden. Das ist der Preis für jahrzehntelanges Arbeiten am Limit menschlichen Leides ohne berufliche Freiräume, dieses angemessen zu verarbeiten. Ohne Zeit, um die Verstorbenen zu trauern, die man gewaschen, gekleidet, genährt und medizinisch versorgt hat. Obwohl ich meinen Beruf gerne ausübe, stellt sich mir die Frage, wie es weitergeht mit ihm und mit mir. Doch was mir wirklich Angst macht, ist die Ungewissheit, was sein wird, wenn ich selbst einmal Patientin, Altenheimbewohnerin, Sterbende bin. Hat sich der Pflegenotstand bis dahin vom Kollaps erholt? Kein Horrorszenarium, sondern Realität, wenn wir abwarten, uns weiterhin vertrösten lassen, nichts tun. Deshalb lasst uns laut werden, kämpfen, so lange wir es noch können! Ein krankes Pflegesystem bedroht uns alle. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, es gesund zu pflegen! |
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04.07.2018, 07:11 | #2 | |
Liebe Damaris,
beeindruckend geschrieben, das lässt einen nicht kalt. Ich hatte selbst mal vor, in der Pflege zu arbeiten, hatte einen Kurs absolviert, in dem ich theoretisch vor Wissen glänzte und mich dann von diesem Beruf schaudernd abwandte, als ich ein Praktikum absolvieren musste. Ich kann (durch deinen Bericht hier) nachempfinden, wie es dir bzw. allen Pflegekraeften geht und es müsste sich dringend etwas ändern - ein solcher Beruf darf einfach nicht unterbezahlt sein/bleiben. Zitat:
Vielleicht könntest du einen solchen Brief an eine seriöse Tageszeitung als "offenen Brief" an zuständige Politiker schicken? LG DieSilbermöwe |
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17.07.2018, 07:07 | #3 |
Hallo Damaris,
das habe ich zur Thematik heute gefunden: http://www.tagesschau.de/inland/merkel-pflege-101.html Mal schauen, ob sich auch was ändert... Zitat aus dem oben genannten Link: "Ob in der Pflege Tariflöhne gezahlt werden oder nicht, hängt oft davon ab, wer die Einrichtung betreibt. "Wenn jemand jeden Tag mit Menschen arbeitet, warum sollte derjenige oder diejenige dann nicht genauso gut verdienen oder etwas mehr wie jemand, der in einer Bank oder an einer Maschine arbeitet", sagte Merkel." Zitatende Aha - und könnte der Staat da nicht einfach festlegen, dass für einen solchen Beruf Tariflohn zu zahlen ist - egal, wer die Einrichtung betreibt? Müsste doch möglich sein. Hier noch ein interessanter Link: http://www.tagesschau.de/inland/spah...3396dac14.html LG DieSilbermöwe |
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23.07.2018, 21:58 | #4 |
Liebe Silbermöwe,
bitte entschuldige, dass ich dir jetzt erst antworte. Ich hatte viel zu tun, zwischendurch hab ich es auch vergessen. Vielen Dank für deine Kritik und dein Interesse an dieser Geschichte und der zugrunde liegenden Thematik. Wie kann man als Außenstehender helfen - du hast schon selbst geantwortet: Informieren, Online-Petitionen, manche unterstützen uns auch bei Demos etc., es passiert zur Zeit viel auf diesem Gebiet, doch ich befürchte, das alles ändert noch lange nichts zum Besseren. Was wohl wirklich helfen würde, wäre, wenn sich Patienten/Bewohner und deren Angehörige über Missstände öffentlich beschweren würden. Leider unterlassen das die meisten aus falsch verstandener Solidarität mit uns Pflegenden, vielleicht auch aus Angst vor schlechter Behandlung. Leider wird noch viel Leid passieren müssen, bevor ehrliche Veränderungen versucht werden. Hoffentlich sehe ich das alles zu schwarz. Vielen Dank und liebe Grüße Damaris |
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02.08.2018, 16:49 | #5 |
abgemeldet
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He Damaris,
das hast du wirklich beeindruckend geschrieben, sachlich und präzise. Darf ich es weiterschicken? Lieben Gruß Letreo |
02.08.2018, 17:08 | #6 |
Liebe Letreo,
vielen Dank für dein Lob. Sehr gern darfst du die Geschichte weiterschicken. Liebe Grüße Damaris |
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04.08.2018, 16:29 | #7 |
abgemeldet
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Danke, Damaris, meine Schwester wird sich freuen und es sicher gleich im Büro aufhängen.
Lieben Gruß und Hut ab, dass du solchen Dienst leistest. Letreo |
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