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Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte. |
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12.07.2017, 18:57 | #1 |
Dann nehme ich ihr alles
Das Baby schreit. Ich höre es, bin wie in Trance. Mechanisch stehe ich auf, gehe zum Kinderbettchen, nehme das Baby hoch.
"Mama ist ja da." Und Papa ist fort. Gestern hat er gesagt, dass er uns verlässt und auf einmal ergibt alles einen Sinn. Die vielen Überstunden und die viele Arbeit am Wochenende. "Nur für euch, mein Schatz! Ich will doch, dass es euch gut geht. " Nichts als Lügen. Gestern habe ich das Foto gefunden." In Liebe, Daniela" steht auf der Rückseite. Ich wollte das Offensichtliche nicht glauben. Doch dann hast du Klartext geredet. Und nun bist du fort. Zum Abschied hast du gesagt, dass ich keinen Unterhalt von dir bekomme. Wie sollen wir leben, das Baby und ich? Das Telefon klingelt. Ich hebe ab, sage nichts, höre. "Endlich", sagt eine atemlose, weibliche Stimme. "Die sind wir los. Vielleicht kannst du das Kind aber behalten. Ich schau mal, was sich machen lässt." Ich lasse das Telefon fallen. Die Stimme kümmert es nicht, sie redet weiter. Lacht. Ich gehe mit dem Baby auf dem Arm auf den Balkon. Es sind drei Stockwerke hoch. Mein Baby. Solange habe ich gebraucht, bis ich schwanger war, fast fünf Jahre. Und dein Papa ist fort. Und du vielleicht bald auch. Nein. Ich setze mich auf das Geländer. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich lasse mich rückwärts fallen und halte mein Baby fest im Arm. Niemand nimmt es mir weg. |
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12.07.2017, 19:04 | #2 |
gesperrt
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Hi Möwe,
sicher traurig, sicher etwas, was im Leben häufiger passiert, wobei da eher die Männer zum Messer greifen. Sicher auch gut umgesetzt und geschrieben. Aber sicher auch platt, vorhersagbar. Witzig wäre gewesen, wenn es sich um ein schwules Pärchen gehandelt hätte, oder wenn der Mann am Ende gesprungen wäre und die Frau eine lesbische Beziehung hat. Männer haben auch Gefühle und lieben Kinder weißt du? Ich natürlich nicht, weil ich ein richtiger Kerl mit dicken Mukis bin. Aber manche schon. Also eher Klischee. Gem |
12.07.2017, 19:10 | #3 |
Wie kommst du auf die Idee, dass ich da was Witziges draus machen wollte?
Ganz sicher nicht. |
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12.07.2017, 19:33 | #4 |
gesperrt
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Witzig im Sinne von: Originell.
Es bedient eben nur ein paar allgemeine Plattitüden. Ich glaube, dass ich das sogar schon in einigen Filmen gesehen habe. |
13.07.2017, 09:01 | #5 |
Wie du schon sagtest, sowas passiert auch im richtigen Leben. Nicht unbedingt mit diesem Ende.
Aber nur weil es "allgemeine Plattitüden" sind, kann die Geschichte trotzdem so passiert sein (mit den angeblichen Überstunden, dem Foto, dem Anruf). Das Ende lasse ich da mal außen vor. Das ist fiktiv. Ich glaube übrigens auch, dass du das schon in einigen Filmen gesehen hast. Das wahre Leben liefert eben solche Vorgaben. |
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13.07.2017, 09:54 | #6 |
Forumsleitung
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Liebe Silbermöwe,
man merkt dem Text an, dass dich, wie es deine Art ist, eine dramatische Idee gepackt und zum schnellen Niederschreiben animiert hat. Es liest sich allerdings nicht wie ein Brief oder Tagebucheintrag, da ein Schreiber dafür eine andere Form wählen würde. Vor allem ist es nicht üblich, bei einem Tagebucheintrag viele Dialoge zu schreiben – wenn, dann allenfalls einzeln, um das Typische oder, umgekehrt, das Einzigartige bzw. Überraschende eines bestimmten Ereignisses zu akzentuieren. Auch sind einige Schilderungen nicht mehr zeitgemäß. So würde z.B. die Geliebte heute nicht mehr auf dem Festnetz anrufen, sondern auf einem mobilen Telefon. Eher könnte man dem untreuen Ehemann durch Kenntnis seines PC-Kennwortes und Zugang zu den E-Mails auf die Schliche kommen oder durch die zufällige Entdeckung einer Rechnung für ein Hotelzimmer, das in einer ganz anderen Stadt ist als die vorgetäuschte Geschäftsreise. Aus deiner Grundidee ließe sich eine packende, psychologisch tiefer gehende Geschichte entwickeln. Frauen springen nur selten mit ihrem Kind aus einem Fenster oder von einem Balkon, eher greifen sie zu Gift oder Schlaftabletten, insbesondere dann, wenn sie im Falle, dass der Selbsttötungsversuch schief geht, bleibende körperliche Schäden fürchten. Ich könnte mir vorstellen, dass die verlassene Frau psychologisch dermaßen überfordert ist, dass sie nur noch daran denkt, ihren Mann für seinen Verrat so übel wie möglich zu bestrafen. Er will ihr das Baby wegnehmen, wobei er ihren überstrapazierten geistigen Zustand als Mittel einsetzt, die Behörden davon zu überzeugen, dass sie für das Baby nicht mehr sorgen kann. Was passiert, wenn man einen Menschen zu verlieren droht und daran offensichtlich nichts ändern kann? Man tötet ihn, damit der andere ihn auch nicht bekommt. Die Mutter könnte also in einem Anfall tiefster Verzweiflung das Baby aus dem Fenster ihrer hochgelegenen Wohnung werfen. Dabei empfindet sie kein Unrechtsbewusstsein, denn schuld ist ihr Mann, der ihr das Kind wegnehmen wollte, um es seiner Geliebten zu „schenken“. Jetzt sieht er, was er von seinem Verrat hat. Ein Leben lang soll der Tod des Kindes auf seinem Gewissen lasten. Diese Geschichte könnte man aus der Rückschau entwickeln. Die Frau sitzt im Gefängnis und wartet auf ihre Verhandlung. Sie führt ein Tagebuch und schreibt darin nach und nach auf, was passiert ist und wie sie die Sache beurteilt – natürlich völlig anders als ihre Familie, die völlig fassungslos ist. Dies wiederum kann die verlassene Frau und Mörderin ihres Kindes nicht verstehen, weil sie sich aufgrund von Ursache und Wirkung völlig im Recht sieht: Sie sah keinen anderen Ausweg. Ich würde Dialoge so weit wie möglich vermeiden, denn sie wirken in einem Tagebuch unnatürlich. Die Spannung könnte hauptsächlich aus den psychologischen Aspekten in den Gedanken der Frau aufgebaut werden. Vielleicht reizt es dich ja, eine solche oder ähnliche Geschichte zu erzählen. VG Ilka |
13.07.2017, 17:52 | #7 |
Liebe Ilka,
vielen Dank für deinen Kommentar! Du hast natürlich recht: Ich habe die Geschichte gestern auf die Schnelle geschrieben, im Kopf hat sie mir schon länger rumgespukt. Nachdem ich sie eingestellt hatte, dachte ich auch: Unter "Geschichten" wäre sie in dieser Form besser aufgehoben gewesen, andererseits wollte ich eigentlich einen Tagebucheintrag daraus machen. Deine Idee, dass diese Frau aus dem Gefängnis schreiben soll, ist zwar nicht schlecht, aber für mich gibt es nur das Ende, dass beide - Kind und Mutter - nicht überleben. Es geht mir nicht darum, dass diese Frau ihren Mann bestrafen will, sondern um ihr namenloses Entsetzen darüber, dass ihr auch noch nach allem anderen das Kind genommen werden soll. Ohne Kind will sie nicht weiterleben, sie würde es einfach nicht ertragen, wenn es ihr weggenommen werden würde. Lieber tötet sie es und sich, aus unendlicher Verzweiflung. LG DieSilbermöwe Edit: Dass die Geliebte auf dem Festnetzanschluss anruft, halte ich für nicht unwahrscheinlich, allerdings, wenn man das Wort "Telefon" im Text durch "Handy" und zwar dass des Mannes, das er zuhause hat liegen lassen, ersetzt, passt es auch. |
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13.07.2017, 18:25 | #8 | |
Forumsleitung
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Zitat:
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14.07.2017, 08:17 | #9 |
Spannend
Meine Intention zielte eigentlich auch nicht darauf ab, eine spannende Geschichte zu schreiben, sondern darauf, etwas, was von außen unfassbar erscheint (das eigene Kind zu töten und dann sich selbst) psychologisch in der Situation greifbarer darzustellen. Da du die Verzweiflung der Frau von Anfang an verstanden hast, scheint mir das gelungen zu sein. Wenn es natürlich auch hätte ausgefeilter sein können. Auf der anderen Seite wollte ich auch die Gefühlsarmut darstellen, in der die Frau sich befindet, wo nichts anderes mehr Platz hat außer ihrer Verzweiflung und dem letzten Ausweg, den sie sieht. Deswegen habe ich kaum Emotionen oder Überlegungen beschrieben.
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14.07.2017, 21:59 | #10 |
gesperrt
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So unfassbar ist das gar nicht und ich denke, dass du nie in der Situation warst. So klingt es jedenfalls. In Wirklichkeit ist es doch so, dass, wenn aus Liebe Hass wird, man dem anderen Menschen schlimmst möglichen Schaden zufügen will. So sehen das zumindest Männer. Frauen gehen, denke ich, doch eher sensibel mit dem Thema um und verstehen solch einen Mord als das Sterben ihrer eigenen Liebe, weil das Kind aus ihren Lenden kommt. Ein Mann hat in Wirklichkeit kaum Bezug zu Kindern, auch wenn euch das vorgelogen wird. Bei einem Mann ist ein Kind immer ein Druckmittel.
Das Kind ist hier also eine Metapher für Liebe. Deswegen wird es auch kaum beschrieben. Also ist es wieder eine Art von Egoismus. Ponyhofdenken. Aber egal. Gem |
14.07.2017, 23:04 | #11 |
abgemeldet
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Liebe DieSilbermöwe,
ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Mutter, die solange gebraucht hat um schwanger zu werden, so etwas tun würde. Das erscheint mir unrealistisch, ist aber nur meine persönliche Meinung. Liebe Grüße Letreo |
14.07.2017, 23:35 | #12 |
gesperrt
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Nein, denke ich schon. Leicht sogar. Zu leicht würde das gehen.
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15.07.2017, 07:46 | #13 |
Forumsleitung
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Möglich ist alles. Es obliegt dem Autor, die Handlungsweise eines Menschen psychologisch so auszuleuchten, dass sie für den Leser plausibel wird. Dazu ist der Text zu kurz, deshalb steht er unter Tagebucheintrag. Er könnte aber die Grundlage für eine längere Geschichte sein.
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15.07.2017, 14:06 | #14 |
@Gemini
Du denkst, dass ich nie in der Situation war. Und ich denke, dass du keine Ahnung von meinem Leben hast. Aber ich hatte und habe nicht die Absicht, hier autobiographische Hintergründe auszuleuchten, also denk, was du willst, es ist mir eh egal. Witzig finde ich in dem Zusammenhang allerdings, dass du glaubst, was aus deiner Sicht so sein müsste, müsste dann auch jeder andere Mensch genauso sehen wie du. Davon abgesehen, muss ein Autor nicht alles, worüber er schreibt, selbst erlebt haben. Liebe Letreo, Ilka-Maria hat die Antwort quasi schon gegeben. Aber ich freue mich, dass du über die Geschichte nachgedacht hast. Es ist zwar eine ganz andere Situation, aber eine Freundin erzählte mal von einer Bekannten, die ebenfalls lange brauchte, um schwanger zu werden, später eine Wochenbettdepression entwickelte und von ihrem Kind getrennt werden müsste, damit kein Unglück geschieht. Manches ist vorher eben unvorstellbar. LG DieSilbermöwe |
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15.07.2017, 22:16 | #15 |
R.I.P.
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Liebe DieSilbermöwe -
gerade die Kürze macht den Text so eindringlich.
Ich weiß nicht, ob ihm eine Ausschmückung dienlich wäre. Das ist wie bei Zeitungsartikeln: Je lapidarer und knapper, desto aufrüttelnder. Meine Meinung. (Ich jedenfalls habe unter diesem Aspekt meine KG geschrieben.) Liebe Grüße von Thing |
16.07.2017, 17:29 | #16 |
Liebe Thing,
danke für deinen Kommentar. Ich denke, du hast recht. LG und schönen Restsonntag DieSilbermöwe |
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Lesezeichen für Dann nehme ich ihr alles |
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