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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger. |
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15.10.2016, 20:29 | #1 |
Rückfahrt
Letzten Sonntag war es wohl.
auf der Rückfahrt vom Urlaub, als Herr Müller seiner Frau verlustig ging, die ihm kurz vor einer Raststätte verschämt mitteilte, einmal "austreten" zu müssen, es kann sogar sein, dass dies kurz vor Castrop-Rouxel passierte. Herr Müller ließ seine Frau aussteigen und nutzte die Pause, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei schnappte er ein Gespräch zweier LKW-Fahrer auf, die sich beschwerten, dass Nutten heutzutage auch nicht mehr das seien, was sie früher nach Meinung der zwei LKW-Fahrer wohl mal gewesen wären und Herr Müller dachte darüber nach, dass er noch nie in seinem Leben bei einer Nutte gewesen war. Als die Zigarette aufgeraucht war, setzte er sich in sein Auto und startete den Motor. Kurz vor Frankreich dachte er, dass er etwas vergessen hätte, aber da er nicht wusste, was, beschloss er, diese Unannehmlichkeit einfach zu vergessen. |
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15.10.2016, 23:01 | #2 |
Dabei seit: 07/2015
Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
Alter: 41
Beiträge: 5.489
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Passiert
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16.10.2016, 12:24 | #3 |
Ja, liest man immer wieder - Mann vergisst seine Frau auf der Autobahnraststätte und es fällt ihm nicht mal auf, nachdem er länger allein unterwegs war.
Von daher war der Einstieg nichts eigentlich Neues. Eher, wie eine eigentlich langweilige Situation (Pause auf der Raststätte) eine abrupte Änderung dessen, was vorher gewesen war, herbeiführt. |
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16.10.2016, 14:10 | #4 |
verschämt
wer seinen ehepartner verschämt fragen muss, ob er austreten darf, ist sicher auch sonst eine unannehmlichkeit.
für mich sind das die beiden anker im gedicht, darin liegt die vorgeschichte, die zu diesem vergessen führen musste; schönen sonntag und lg, talking head |
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16.10.2016, 17:58 | #5 |
Zum ersten Mal muss ich Ilkas Satz "If you catch an adjective, kill it" recht geben - hier hat es einen Leser auf eine völlig falsche Fährte geführt. Zumindest auf eine, an die ich beim Schreiben nicht im Geringsten gedacht hatte. Das Wort "verschämt" hatte hier überhaupt keine tiefere Bedeutung.
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16.10.2016, 18:15 | #6 |
Fortsetzung
Als Herr Müller sich der französischen Grenze näherte, er war bereits kurz vor Kehl, fiel ihm ein, dass in Frankreich ja immer noch der Ausnahmezustand herrschte und er vielleicht an der Grenze länger warten müsste.
Andererseits hatte er auch keine Lust, woanders hin zu fahren. Er schaltete das Radio ein und erwischte nach einigen Versuchen einen deutschen Sender. Ein Sprecher erzählte gerade, dass die Polizei auf einer Raststätte kurz vor Castrop-Rouxel eine völlig aufgelöste Frau aufgelesen hatte, die nach eigenen Angaben von ihrem Mann an der Raststätte vergessen worden war. Das ließ Herrn Müller kurz an seine eigene Frau denken, aber eigentlich war die Erinnerung an sie schon nur noch verschwommen und unwirklich und wirklich wichtig war ihm das auch nicht, was sie wohl gerade tat oder wo sie war. Vielleicht hatte er auch überhaupt nie eine Frau gehabt, das konnte auch sein. Um sich zu orientieren, wie genau er nun fahren musste und um das Navi zu programmieren, steuerte er nun wiederum eine Raststätte an; außerdem meldete sich seine Blase und Herr Müller dachte darüber nach, wie gut es doch Astronauten mit solchen Anzügen hatten, bei denen es nicht mehr nötig war, eine Toilette aufzusuchen. Dieser Gedanke ließ ihn zum Himmel blicken, und dann dachte er, was der Weltraum doch für eine dunkle und kalte Umgebung sei und er beneidete die Astronauten nicht länger. Später rauchte er wiederum eine Zigarette und glaubte, von ferne zwei Nutten erspäht zu haben, die ebenfalls auf dem Parkplatz standen und rauchten. Da er aber nicht wusste, wie er sie ansprechen sollte oder ob er sie überhaupt ansprechen sollte, blieb er lieber weiter entfernt stehen. To be continued |
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16.10.2016, 19:58 | #7 |
mit 'a'
als Nordrhein-Westfale will ich's doch anmerken: es heißt Castrop-Rauxel. Ein hier beliebter Spruch ist: Wanne-Eickel ist der deutsche Name von Castrop-Rauxel; stimmt natürlich nicht.
Na, dann hatte die falsche Fährte eines Lesers ja den Sinn einer ersten Bestätigung von Ilka-Marias Satz. bin gespannt, wie die geschichte weiter geht. |
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16.10.2016, 20:46 | #8 |
Danke für die Anmerkung, talking head.
Fortsetzung Während Herr Müller noch unschlüssig da stand, kamen drei kichernde Teenager, die wohl im Restaurant, was zur Raststätte gehörte, gewesen waren, an ihm vorbei. Das heißt, zwei kicherten und hatten die dritte in die Mitte genommen. Es sah aus, als stützten die beiden sie. "Mensch, Jenny", sagte die eine, "musstest du dich so besaufen? Das ist doch kein Kerl wert!" Und dann lachten alle drei, auch die in der Mitte, laut auf. Herr Müller überlegte, dass er noch nie stockbesoffen gewesen war. Und verliebt? Hier musste er angestrengter nachdenken. |
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17.10.2016, 07:12 | #9 |
Fortsetzung
Die drei Mädchen verschwanden lachend in einem großen Reisebus, der anscheinend nur auf sie gewartet zu haben schien; sobald sie sich im Bus niedergelassen hatten - Herr Müller konnte von seinem Platz aus sehen, wie sie das taten - brummte und ruckelte der große Bus, machte viel Lärm und fuhr dann an Herrn Müller vorbei. Er konnte noch einen Blick in das Businnere erhaschen - lauter junge Leute - und dachte, dass die drei Mädchen, die an ihm vorbeigekommen waren, sowie der Rest der Gesellschaft im Bus wohl auf Klassenfahrt waren. Für einige Minuten beneidete er die jungen Menschen; dann dachte er, dass Pubertät auch nicht das angenehmste Alter war. Er konnte sich noch sehr gut an seine eigene erinnern, nicht jedoch daran, sich auf einer Klassenfahrt oder überhaupt in dem Alter so betrunken zu haben, dass ihn zwei andere stützen mussten. Wenn man ihren Worten Glauben schenkte - und Herr Müller hatte keinen Grund, daran zu zweifeln - hatte sich "Jenny" wegen eines Wesens des anderen Geschlechts so betrunken, und das war Herrn Müller erstens noch nie passiert und zweitens - jetzt wusste er es wieder ganz genau - war er noch nie verzweifelt vor Liebe gewesen. Sein Leben war eine Abfolge von vorhersehbaren Ereignissen gewesen bis jetzt und Herr Müller wusste auf einmal, dass er sein Leben gründlich satt hatte, so, wie es bis jetzt gewesen war.
Die Zigarette war längst aufgeraucht. Er setzte sich in sein Auto, oeffnete das Handschuhfach, nahm einen dort bereit liegenden Zettel und Stift heraus und schrieb ganz oben auf den Zettel: WAS ICH NOCH NIE GEMACHT ODER ERLEBT HABE Dann zählte er alles auf, was ihm bis jetzt eingefallen war. Inzwischen war es spät geworden. Herr Müller beschloss, vor dem Schlafengehen noch zu versuchen, über die Grenze zu fahren und sich in Frankreich nach einem Schlafplatz umzusehen. Ehe er den Motor startete, fiel ihm ein, dass er auch noch nie als Clochard gelebt hatte. Er lächelte über seinen Einfall und fuhr in sein neues Leben. ENDE |
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17.10.2016, 08:24 | #10 | |
Forumsleitung
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Zitat:
“When you catch an adjective, kill it. No, I don't mean utterly, but kill most of them - then the rest will be valuable. They weaken when they are close together. They give strength when they are far apart.” |
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17.10.2016, 12:24 | #11 |
Danke für die Richtigstellung und ausführliche Angabe des Zitats, Ilka.
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