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08.10.2011, 17:02 | #1 |
Zugfahrt
Zugfahrt
Die Landschaften ziehen draußen an mir vorbei, doch ich sitze still. Ich beobachte, wie mir etwas geschieht, ohne dass ich etwas tue. Neben mir die Japaner-Familie mit schreienden Kindern. Eine Tonbandstimme kündigt die nächste Station an. Niemand kennt mich. Niemand soll mich kennen. Niemand will mich kennen. Das monotone Rattern des Zuges frisst sich in mein Bewusstsein. Mir wird übel. Wohin schauen? Egal wohin ich schaue, mir wird nur immer schlechter. Nicht vor mich auf den alten zerfetzten Sitz oder den dreckigen Boden, nicht neben mich auf die fremden Japaner, nicht aus dem Fenster auf die hektische Landschaft – Ich schließe die Augen, aber auch das hilft nicht viel. Zum Glück dauert es nicht mehr lange bis der Zug hält. Das Japaner-Kind wirft eine Flasche zu Boden, die donnernd zerschellt und die Monotonie erschüttert. Ich schrecke auf. Die ganze Milch überströmt den Flur und sickert in meine Richtung, vor meine Füße. Das hat die unangenehme Folge, dass die Japaner jetzt wie verrückt um meine Beine herumwuseln und mich mit ausländischen Entschuldigungen überschütten, während sie die Milch vom dreckigen Boden putzen. Dieses Theater tue ich mir nicht lange an – zum Glück kommt gleich noch einmal die Tonbandstimme und sagt mir, dass der Zug gleich hält. Ohne ein Wort nehme ich mein Gepäck, kämpfe mich mühevoll durch die Milchlache und die Japaner-Körper durch und erreiche schließlich die Türe, an der sich schon viele andere Fahrgäste zwängen. Beim Aussteigen noch einmal die Tonbandstimme: „Wir würden uns freuen, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen.“ Ich denke mir nur: Wer freut sich? Und über wen? Draußen angekommen hallen die Lautsprecheransagen über die Bahngleise und machen mich benebelt. Die Menschen hasten an mir vorbei – Gesichter über Gesichter, in einem jeden lauert ein so entsetzlicher Abgrund wie in mir, den niemals jemand entdecken wird. Dieses Herumgewusel, diese durchstrukturierten Fahrpläne, die unser Leben für uns planen, die Lautsprecheransagen und das Tempo – das alles ist so grauenvoll nützlich, dass man nichts dagegen sagen kann. Was wäre denn ohne Fahrpläne? Wir wüssten ja gar nicht, wann wir zum Bahnhof sollen, und wohin der Zug fährt. Was wäre denn ohne diese ganzen Leute? Sie müssen ja da sein, damit sie zur Arbeit kommen und alles funktionsfähig erhalten. Was wäre denn ohne die Lautsprecher, die mich fast verrückt machen? Niemand würde wissen, wenn ein Zug zu spät oder gar nicht kommt. Alles ist praktisch, alles ist nützlich. So nützlich, dass man nichts sagen kann. |
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08.10.2011, 23:22 | #2 |
Hallo
Für mich liest sich diese Geschichte sehr fliessend und bringt dieses "Gefühl" von der 'Nützlichkeit' herüber. Persönlich stört mich nur ein Wort, in zwei verschiedenen Weisen genutzt: herumwuseln und Herumgewusel Mir ist es zu 'knuffig' für die Färbung des Textes. Liebe Grüsse Shadowcrow |
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09.10.2011, 10:02 | #3 |
abgemeldet
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das ist ein interessanter text, der dicht geschrieben ist und dem leser einen einblick in ein land gibt, indem viele menschen hier- und daorts - mag sein manche(r) der leser(innen) - leben:
PHLEGMANIEN |
09.10.2011, 10:34 | #4 |
R.I.P.
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Halli Hallo, Mephistopheles -
ein dichter Text, fehlerfrei gereicht! Aber ich sehe nicht Phlegmanien vor mir. Eher die Isoliertheit inmitten der Menschenmenge; die Furcht vor Abgründen; die Erkenntnis, daß es ohne Regelwerk nicht funktionieren kann. Wer sich freut auf die Gäste: Die Bahn. Sie verdient daran. LG Thing |
09.10.2011, 12:06 | #5 | |
abgemeldet
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na ja ROMchen recht hättest du, wenn PHLEGMANIEN ein land der sittlich- und tugendhaftigkeit wäre. ich seh es eher als eines der aufgebenden und der gleichgültigkeit. all dies tut diesem feinen text natürlich keinen abbruch, sondern zeigt nur die fermentierte sichtweise der leser auf. wobei dieser satz des autoren mich darauf führte:
Zitat:
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09.10.2011, 12:10 | #6 | |||
Hallo und danke für eure Meinung!
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Wenn jemanden mein Text näher interessiert und sich jemand weiter darüber Gedanken machen will, dann werf ich hier mal ein paar Stichwörter für Interpretationsansätze hin: Verhältnis Einzelner - Masse (Widersprüche?), Fremdheit in der Welt, Passivität / Ohnmacht, Anonymität ... |
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09.10.2011, 12:29 | #7 |
R.I.P.
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Einiges davon habe ich ja in meinem Kommentar erwähnt.
Falls man Isolation einer Anonymität gegenüberstellt. LG Thing |
11.10.2011, 14:16 | #8 |
Hallo Mephistopheles,
Nur so ein Gedanke: Könnte es vielleicht ein "Herumgeirre" werden? Nachdenkliche Grüsse Shadowcrow |
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11.10.2011, 14:53 | #9 | |
Hey Shadowcrow,
danke für den Vorschlag. Wenn, dann würde das ja nur in der zweiten Verwendung dieses Wortes im Text einen Sinn machen, also: Zitat:
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