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14.01.2012, 09:43 | #1 |
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Hundstage
Der Tag neigte sich dem Abend zu. Die Sonne hatte sich hinter gewittrige Wolken verzogen, aber noch war es hell genug, das Licht nicht einschalten zu müssen. In Erwartung des Regens, der die Schwüle und Schwere aus der Luft waschen würde, so daß wir nach den Hundstagen wieder besser schlafen konnten, hatten wir die Balkontür weit geöffnet. Schonungslos traf uns deshalb das Geräusch kreischender Reifen und krachenden Metalls, gefolgt vom schrillen Geschrei eines Passanten: „Helft, Leut‘, helft ... helft!“, das uns in Mark und Bein drang.
Mutter stürzte auf den Balkon, ich hinterher, obwohl sie mich, nachdem sie die Situation erfaßt hatte, daran hindern wollte. Auf der Straße stand der Mann, ein älterer, großgewachsener Herr, der in Richtung der Wohnhäuser sah und immer wieder dieselben Worte schrie: „Helft, Leut‘ – helft!“ An der Straße hatten Fernfahrer entlang des uns gegenüberliegenden Werksgeländes ihre Lastwagen für die Nacht geparkt. Die Straße war breit genug dafür, denn noch immer konnten bequem zwei Autos in beide Richtungen fahren. Außerdem waren in unserem neu erschlossenen Wohngebiet nicht viele Fahrzeuge unterwegs. Niemand hätte gedacht, daß es hier zu einem Unfall kommen könnte. Auf der Fahrbahn lag ein Kinderfahrrad, daneben ein größerer Junge, der vor sich hin wimmerte. Der kleinere Bruder lag, den Körper grotesk wie eine Brücke gebogen und die Stirn auf den Asphalt gepreßt, auf der anderen Seite des Fahrrads und rührte sich nicht. Dahinter stand ein Auto, ein kleiner Mittelklassewagen. Die Fahrerin war schockgelähmt und unfähig, das Lenkrad loszulassen und auszusteigen. Die beiden verunglückten Kinder gehörten dem Ehepaar, das in der Wohnung uns gegenüber lebte. Es gab noch einen dritten Sohn, der nicht geplant gewesen war und die Mutter an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit brachte. Fast jeden Nachmittag, wenn ich vom Büro nach Hause kam, hörte ich durch die Wohnungstür, wie sie ihre Kinder ausschimpfte. Seit jenem Unfall herrschte ungewohnte Stille auf unserer Etage. Weil ich immer die erste von uns war, die von der Arbeit nach Hause kam, und nicht als gleichgültiger Mensch gelten wollte, klingelte ich bei den Nachbarn, um mich nach dem Befinden der beiden Söhne zu erkundigen. Der Vater öffnete die Tür, sah mich mit verheultem Gesicht an, gab aber mit fester Stimme Auskunft: Man wisse nicht, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Der Große habe vernommen werden können, demnach war er vorschriftsmäßig gefahren und hatte, bevor er an den parkenden Lastern vorbeifahren wollte, die Hand zum Zeichen ausgestreckt. Ihm sei nicht viel passiert, es gehe ihm gut. Aber der Kleine ... er habe auf dem Gepackträger gesessen und sich beim Aufprall nicht genügend festhalten können ... Magendurchbruch und abgerissene Milz ... in der Nacht gestorben. Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich, wie es ist, wenn der Hals immer dicker wird und der Schluckmechanismus seinen Dienst einstellt. Mit rauher Stimme stammelte ich etwas von „Beileid“, bevor der Nachbar die Tür wieder schloß, dann öffnete ich die eigene Wohnungstür und trat benommen auf den stickigen Flur. Das Gewitter war ausgeblieben. 14. Januar 2012 by Ilka-Maria |
16.02.2012, 12:01 | #2 |
Gerne gelesen.
Gelungen fand ich vor allem die Verbindung des vernommenen Wetters mit dem Ereignis. Mag das Buch von Grass auch, das mit dem ähnlichen Titel. |
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16.02.2012, 12:06 | #3 |
R.I.P.
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Sehr eindringlich!
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