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Alt 23.05.2024, 20:34   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Ein Hundeleben

Die Buhz war eine schmächtige und nicht sonderlich hübsche Schäferhündin. Sie hatte kein gelbes Fell mit einem dunklen, feingeschwungenen Sattel, sondern war von der Nase bis zur Schwanzspitze schwarz. Und sie hatte eine Macke: Bei Gewitter und Feuerwerk drehte sie durch, ein Vermächtnis des Kriegs, in dem sie einem Offizier der Wehrmacht an der Front gedient hatte. Sobald der erste Knall die Luft zum Zittern brachte, musste man sie am Halsband festhalten, damit sie nicht panisch davonstob und sich den Kopf an einer Wand einrannte.

Aber sie war ein treuer Hund mit starker sozialer Bindung und hohem Anpassungsvermögen. "Wenn Opa dich wickelte, passte die Buhz auf. Sie legte ihre Schnauze aufs Bett und beobachtete jeden seiner Handgriffe. Ihre Augen gingen hin und her, bis er fertig war und dich auf deine Decke auf dem Fußboden legte. Dann setzte sie sich neben dich und wartete, bis ich kam und dich zum Kinderwagen brachte, der unten am Treppenaufgang stand. Damit war sie zufrieden, denn sie wusste, dass du bei mir in guten Händen warst." So erzählt meine Mutter, dennoch kann ich mich nicht erinnern. Es ist zu lange her. Ich muss glauben, was sie erzählt. Es gibt ein Foto von mir als Kleinkind, auf dem die Buhz neben mir sitzt, aber auch daran kann ich mich nicht erinnern. Was seltsam ist, denn ich trage auf dem Foto eine Mütze, an deren Form und Farbe ich mich klar erinnere. Das Foto ist schwarz-weiß. Die Mütze, da bin ich sicher, war hellblau.

In der Innenstadt gab es eine Kneipe, in der Opa sein Bier zu trinken pflegte, so geht die Erzählung meiner Mutter weiter. Wenn die Buhz auftauchte, wusste der Wirt Bescheid und gab seiner Frau Kommando: "Die Buhz ist da, zapf schon mal das Bier!" Dann setzte sich die Buhz neben den Tisch, auf dem das Glas mit dem frischen Bier stand, und bewachte ihn, bis Opa auf der Bildfläche erschien.

"So einen Hund hätte ich gern", sagte der Wirt. "Was willst du für ihn haben?"

"Der ist nicht zu haben. Der liebt auch nicht jeden."

"Dich liebt er also. Du hast ihn dir nicht gezogen?"

"Nein", war Opas strikte Antwort. Er trank sein Bier aus. "Lass das Schachern, Rudi, und sag Marianne, sie soll mir noch ein Bier zapfen."

Rudi winkte seiner Frau, den Zapfhahn zu bedienen. "Dein Hund und du, ihr seid ein Kopf und ein Arsch", wandte er sich Opa wieder zu.

"So könnte man sagen. Nur dass meine Buhz mehr Charakter hat als ich."

Als Opa starb, hörte die Buhz auf zu fressen. Sein Geruch war noch da, in allen Winkeln der Wohnung, in seinem Bett, seinem Lieblingssessel, in jedem Teppich, auf dem er barfuß gegangen war. In seiner Werkstatt, der Sattlerei, die gegenüber der Wohnung lag. Er war nicht mehr da. Sie suchte ihn überall, aber da war niemand mehr, den sie auf einem Spaziergang begleiten oder dessen Kommen sie in seiner Stammkneipe hätte ankündigen können. Oma war ihr kein Ersatz für den Menschen, mit dem sie völlig verschmolzen war. Sie magerte dramatisch ab. Als sie drohte, zu einem Gerippe zu werden, erbarmte sich Oma und ließ sie einschläfern.

Geblieben sind die Fotos, auf denen ich mit der Buhz zu sehen bin, die meine getreue Wächterin war, an die ich mich aber nicht erinnern kann.

23.05.2024
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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