Ivo's Traum
Zwei Tage war es her, seit Ivo sich in einem der ausgebombten Häuser versteckt hatte. Er wußte nicht, ob er jemals zu weinen aufhören konnte. Was sollte ein elfjähriger Junge auch tun, wenn er miterleben mußte, wie eine Granate seine Familie tötete. Immer wieder hatte er die grausigen Bilder vor Augen, immer wieder hörte er die Schreie. Dabei waren alle Bewohner hier in Bihac' bis zu jenem Tage so voller Hoffnungen, weil über einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen gesprochen wurde. Nun war alles zerstört. Ivo hatte Angst diese Ruine zu verlassen. Vielleicht suchten ihn die Bösen schon, um ihn auch zu töten. In diesem Gedankentrubel übermannte den Jungen die Erschöpfung, und er fiel in einen tiefen Schlaf. Er träumte von einem wunderschönen Engel, mit goldenen Flügeln. Als dieser Engel ihn berührte, wurde ihm so warm ums Herz, dass er glaubte, in den Armen seiner Mutter zu schlafen. Während der Engel zärtlich Ivo's Hand hielt, begann er mit sanfter Stimme zu sprechen. "Ivo, du wirst ab dem heutigen Tage, in diesem von Hass regierten Land, die einzige Hoffnung auf Frieden sein. Jeden Soldaten den du anschaust, wird seinen eigenen durch den Krieg verschuldeten Tod sehen. Nur diese Angstvorstellung wird sie zur Waffenniederlegung bewegen können. Ich werde dich auf deinem Weg begleiten und beschützen." Mit diesen Worten schloß der Engel und verschwand. Ivo fühlte sich plötzlich aufgehoben und davongetragen. Rasend schnell sah er Gesichter kommen und gehen. Noch einmal erblickte er den Engel, der ihm aufmunternd zulächelte. Dann verschwamm das Bild. Als Ivo erwachte, spürte er nicht nur die Wärme der Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch die Trümmer gebahnt hatten, sondern auch etwas unbeschreiblich Wohliges. Von irgendwoher hörte er Stimmen und Schritte, die sich näherten. Aber Ivo saß ruhig da und erinnerte sich noch einmal an den fantastischen Traum. Währenddessen trat ein Mann heran, nahm ihn liebevoll in seine Arme und flüsterte ihm ins Ohr."Es ist vorbei Junge, es ist vorbei." Er begann zu weinen, als er das Schluchzen des Jungen vernahm.
Zusammengetragen und fantasievoll ausgearbeitet aus Erzählungen von jugoslawischen Bauarbeitern auf einer Autobahnbaustelle während des Jugoslawienkrieges. (Wiederentdeckt in meinen Tagesberichten)
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