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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 04.08.2016, 23:24   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Standard Zehn alte Gedichte

Ich habe eine Zeit lang auch über Dinge Gedichte geschrieben. Zehn dieser Texte habe ich mal zusammengestellt. LG g


Die Schere
________________________________________
Auf meinem Schreibtisch grätscht sie schon die Schenkel,
ein Schräubchen in des Winkels Scheitelpunkt.
Ich stecke ihr zwei Finger durch die Henkel,
wie man den Spieß mit Fleisch in Soße tunkt.

Dann hebe ich sie von der harten Platte
und öffne ihre Schenkel etwas mehr.
Ich zeige ihr, wen ich im Sinne hatte,
ein bleiches Opfer ohne Gegenwehr.

Sie reagiert, umschließt das Blatt und schneidet,
indem sie wiederholt die Grätsche schließt.
Ich weiß nicht, ob das weiße Opfer leidet,

das zweigeteilt von ihrer Schneide fließt.
Der Schnitt ist glatt und unser Schauen weidet
sich an dem Akt, aus dem Gemeinschaft sprießt.



Das Klo
________________________________________
Mein Auge schaut durch seine Brille
in Löcher eins bis drei hinauf.
So fange ich mit der Pupille
die Aggregate willig auf.

Das letzte Mahl, das man sich bückend
mir saurer würgend offeriert.
Das, was im Sitzen, so entzückend
heraus flutscht, mir den Blick garniert.

Ich lasse schließlich Tränen fließen,
ein Wimpernbürstchen putzt mich fein.
Des Lebens kann ich stets genießen,
fast jeder will gern auf mir sein.



Hoover
________________________________________
Ich bin, obwohl ein Beuteltier,
in aller Welt verbreitet,
erjage Fussel, Staub, Papier,
hab Spinnen schon erbeutet.

Ich schlürfe sie durchs Rüsselrohr,
ein Flügel saugt von innen,
lang schaut mein Kabelschwanz hervor,
ein Motor brummt tief drinnen.

So rolle ich von Raum zu Raum
und bitte nicht vergessen,
den Beuteln wechseln, denn mein Traum
heißt: alles sauber fressen.



Vom Spiegel
________________________________________
Ich führe dich stets hinters Licht.
Du siehst ein Bild, dem nichts entspricht,
nur Schnittpunkte von Strahlen.
Was hinten war, kommt vorne hin.
Es läuft die Zeit im Gegensinn,
falsch kreiseln die Spiralen.
Und doch glaubst du dem Spiegelbild.
Es stimmt erst glücklich, später mild,
zuletzt stürzt es in Qualen.



Das Gleis
________________________________________
Auf Schottergrau, auf dunklen Schwellen
dehn ich mich aus, ruht mein Metall.
Verweilend eilt es fort zu hellen
und düstern Orten überall.

Den Schall bring ich, der wächst und schwindet
und Menschen, Dinge, hin und her,
wer Tote zwischen Disteln findet,
hier macht sich auch Verzweiflung leer.

Ausdauernd ruh ich, bin entsendet,
auf mir schleppt rastlos sich die Last.
Wo immer ihre Reise endet,
ihr Ziel hab ich zuvor erfasst.



Das Netz
________________________________________
Ich glänze zart als Fliegenfalle
und raufe Schwärme aus dem Meer.
Ich trage dir die Dinge alle
und Daten schnellstens hin und her.

Ich bin die Ordnung, ich verstrebe
die Punkte, die allein noch leer
an Wert sind in ein Sinngewebe
und mache sie bedeutungsschwer.

Ich bin das Loch, das, fein gespalten,
zerstückelt, doch zusammenbleibt,
ein Wesentliches festzuhalten
im Strom, der durchdringt, weiter treibt -



Die Fliegenklatsche
________________________________________
Ich freue mich auf warme Tage,
wenn ich die hübsche Fliege seh,
geb ihr in exponierter Lage
den ersten Kuss. Doch der tut weh.
Es war der letzte schon. Die Lippe
kam ohne Windstoß, schnell und hart,
das brach dem Schätzchen jede Rippe
und nur der rote Fleck bewahrt
sein von der Wucht verflachtes Sein --
auch Glanz im Teppich - von Gebein.



Die Uhr
________________________________________
Beflügelt von der Zeiten Gang
setz ich des Zeigers Schritte
und führe sie zwölf Stunden lang
um eine stille Mitte.

Dort ruhest du in Morhheus Arm.
Wirst drin einst immer weilen.
Doch vorerst schlage ich Alarm
und treibe dich zu eilen.

Ich zeig dir, wo die Sonne steht
und zirkle dir das Leben,
markiere, wie es weiter geht
und takte all dein Streben.

Man trifft sich und man scheidet bald
auf Stunde und Sekunde.
Vermerkt sich, wann des Glücks Gewalt
einst stieg und ging zu Grunde.

Ich setz den Rahmen aus Geburt
und ernster letzter Stunde.
Und gehe, wenn du festgezurrt,
in meine nächste Runde.



Der Tropfen
________________________________________
Ich bilde Tau, ich kugle mich
auf Wachs, spritz aus Fontänen.
Rinn von den Blättern, netze dich
bei Kummer sanft mit Tränen.

Ich häng am Zweig, ein Birnchen Glanz,
verdunste an der Sonne.
Fall ich ins Wasser, wächst ein Kranz,
ein Säulchen steigt voll Wonne.

Ich tummle mich im hellen Schoß
der Freunde und genieße,
wie ich - es lässt die Form mich los -
in ihre Welt zerfließe.



Das Blatt
________________________________________
Ich schlief so lang. Aus enger Hülle
schieb ich mich spreitend jetzt hervor
und greif das Licht in seiner Fülle
und öffne ihm des Lebens Tor.

Ich sammle es. Ich zeuge Stoffe,
in denen es sich schwebend hält
als Energie, die stützt und schroffe
Gebirge selbst zum Wachsen wählt.

Ich spende Nahrung, werfe Schatten,
und atme für die Tiere aus,
trag kleines Leben, düng die Matten,
fall ich gefärbt aus meinen Haus.

Ich bin ganz ich und doch der vielen,
die ähnlich sind in ihrem Schnitt,
ein Helfer, denn gemeinsam spielen
wir in dem Ganzen reicher mit.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 00:02   #2
weiblich Ex-Letreo71
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2014
Ort: Niedersachsen
Beiträge: 4.032

Zehn kleine Gummiwerke
les ich zum erfreun,
die Schere schnitt eins ab,
da waren' s nur noch neun.

Neun kleine Gummiwerke,
was habe ich gelacht,
eins viel vor Schreck in' s Klo,
da waren' s nur noch acht.

Acht kleine Gummiwerke
sind da noch geschrieben,
dem Hoover nun der Beutel platzt,
da waren 's nur noch sieben.

Sieben kleine Gummiwerke,
ich bin total perplex.
Was steht denn da im Spiegel?
Seh ich richtig - Sex?

Sechs kleine Gummiwerke,
sorry wenn ich schimpf,
der Zug fährt auf 'nem andern Gleis,
da waren 's nur noch fünf.

Fünf kleine Gummiwerke
stehen jetzt noch hier,
eines ist in' s Netz gefallen,
da waren 's nur noch vier.

Vier kleine Gummiwerke
flattern rum, so frei,
plötzlich kam die Fliegenklatsche,
da waren 's nur noch drei.

Drei kleine Gummiwerke
sind mir nicht einerlei,
ich gucke auf die Uhr,
verdammt, da stehn noch zwei.

Zwei kleine Gummiwerke,
der Tropfen und das Blatt,
die lassen mich jetzt ruhn,
denn ich bin so matt.

Lieber Gummibaum,

zehn kleine Gummiwerke haben mir sehr gefallen.

Lieben Nachtgruß

Letreo
Ex-Letreo71 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 00:36   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Das ist ja ein tolles Betthupferl, letreo! Süß geschrieben. Hab's mit Freude gelesen.

Alles Liebe
gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 11:37   #4
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Standard Lieber gummibaum -

ich weiß nicht, welche der zehn Niaiserien mir am besten gefällt - eigentlich jede!
Du hast Einfälle skurrilster Art, manchmal komme ich aus dem bewundernden Staunen nicht heraus.

Diese zehn Skizzen sind eine Bereicherung!

Lieben Gruß
von
Thing

Geändert von Thing (05.08.2016 um 13:30 Uhr) Grund: Texterweiterung
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 11:52   #5
männlich Nöck
 
Benutzerbild von Nöck
 
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662

Lieber gummibaum,

durchweg ein Genuss und immer schön flott in Reim und Rhythmus. Schade, dass die "modernen" Dichter das für altmodisch halten.

Ich hätte deine Werke auch gerne einzeln, nacheinander eingestellt, gelesen. "Die Schere" erzeugt Bilder in meinem Kopf.

Mit Freude gelesen, geschmunzelt und genickt.
Liebe Grüße
Nöck
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 13:10   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Liebes Thing,

da ich nicht so viel erlebe, muss ich mir manchmal etwas Skurriles ausdenken und so aus der Not eine Tugend machen. Vielen Dank.


Lieber Nöck,

danke. Ich habe die Texte in ihrer Entstehungszeit bei poetry. de einzeln eingestellt. Darum jetzt nur komprimiert. Die Schere gehört in die Sparte der mit erotischen Bildern überlagerten Dinggedichte. Modern habe ich früher auch gedichtet, später nur noch postmodern.

Liebe Grüße euch beiden.
LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2016, 13:27   #7
weiblich Ex Lucyinthesky
abgemeldet
 
Dabei seit: 07/2016
Beiträge: 202

Zehn Leckerbissen ... und ein elfter noch von Letreo.

Einfach klasse!
Ex Lucyinthesky ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.08.2016, 00:35   #8
weiblich Ex-Letreo71
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2014
Ort: Niedersachsen
Beiträge: 4.032

Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
Das ist ja ein tolles Betthupferl, letreo! Süß geschrieben. Hab's mit Freude gelesen.
Und ich habs mit Freude geschrieben.

Liebe Grüße ins Wochenende

Letreo
Ex-Letreo71 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.08.2016, 21:43   #9
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269

Lieber gummibaum,
danke für die gelungene Zusammenstellung. Sehr gern gelesen und mehrfach geschmunzelt!

Liebe letreo71,
das ist richtig knuffig!

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
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