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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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09.06.2014, 00:40 | #1 |
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Doro, Marion und ich
Heut verfasst' ich einen Reim
über unser Mädchenheim, über Marion und mich, ja, und Doro, über dich! Ihr zwei Mädels aus dem Pott wart stets aufgelegt zum Spott. Oh, ich kenne noch genau unsern Gruß: "Komm, alte Sau..." In ein Heim im Frankenland hatte man uns hin verbannt, weil wir junge Hippies warn mit zerzausten langen Haarn. Hinter Gittern saßen wir ohne Haschisch, Sex und Bier. Hostien waren reichlich da, sangen auch das Gloria. Arbeitsdienst im Bügelsaal. Nazidrachen, kannst uns mal! Hast umsonst uns angefaucht, dass ne deutsche Frau nicht raucht. Sonntagsgottesdienst, ein Muss, bei Professor Hasenfuß. Wer dagegen aufbegehrt, ward im Waschraum eingesperrt. Fernsehabend: Joseph Roth! Kurz darauf: Die Glotze tot! Qualtinger lag nackt im Bett, das findt keine Nonne nett. Haben Mandrax aufbewahrt, Pillen der besondren Art. Sonntags gingen wir spaziern, krochen fast auf allen Viern. Die Klamotten im Versteck fand die Nonne, welch ein Schreck! Und gescheitert war die Flucht. Statt der Freiheit strenge Zucht. Trotzdem haben wir gelacht, übers Leben nachgedacht, stimmten linke Lieder an, was man nicht verbieten kann. Jener Salesianerjung tanzte Walzer mit viel Schwung. Er war strebsam, ernst und fromm, hab ihn leider nicht bekomm’. Das ist viele Jahre her. Heute wird das Herz mir schwer, weil du nicht mehr bei uns bist. Eine, die man nie vergisst! Liebe Doro, hast jetzt Ruh. Irgendwann komm ich dazu. Fehlt nur noch die Marion, doch die findet uns dann schon! |
09.06.2014, 06:49 | #2 |
R.I.P.
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Liebe Rosenblüte -
ja, da kommen Erinnerungen hoch.
Du hast das typisch Damalige prima rübergebracht, ganz ohne Verklärung, trotzdem nicht trauerkloßig. Es g a b ja zum Glück auch Erfreuliches neben dem vielen Graubraun. Das Ende ist bei aller Melancholie beinahe heiter. Dein Stil ist unverwechselbar, ich kenne ihn aus allen anderen Beiträgen heraus. Warum lese ich so selten etwas von Dir? Herzlichen Gruß von Remus |
09.06.2014, 22:15 | #3 |
Ich historischer Ausflug mit liebenswertem "Trotzdem".
Gern gelesen gummibaum |
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17.06.2014, 22:35 | #4 |
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Doro, Marion und ich
Liebe Rosenblüte,
ach Du meine Güte, das ist höchst emotional, erheiternd, traurig und genial! Ein großes Lob und Dankeschön, sowas Gutes unter Zeitgeschen, hab ich echt selten hier gesehen. Freundliche Grüße Letre71 |
18.06.2014, 20:56 | #5 |
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Liebe Rosenblüte,
ein tolles Gedicht über Abenteuer und Freundschaften aus längst „vergangenen Tagen“. Eins ist gewiss, wir müssen alle einmal gehen, aber die Erinnerungen bis dahin kann uns niemand nehmen. Doro wird sich über Dein Gedicht sehr freuen. Aber wer weiß, vielleicht müssen Doro und Marion ja auf Dich warten. Sehr gerne gelesen, obwohl ich die Traurigkeit dabei nicht überlesen habe ... Liebe Grüße Dabschi |
16.07.2014, 22:18 | #6 |
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Danke für euer Lob und eure lieben Worte!
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich erst jetzt antworte. Mit Doros Mann bin ich weiterhin in Kontakt. Es ist sehr schwer für ihn, denn die beiden waren füreinander bestimmt. Er hat sich einen Hund zugelegt, der ihn ein bisschen über die Einsamkeit hinweg tröstet. Zu allem Überfluss ist jetzt auch noch sein bester Freund gestorben. Doro habe ich verloren, habe aber eine andere Freundin aus jener Zeit wiedergefunden, Anke. Das kam, weil ich über unser Mädchenheim im Internet recherchierte. Von Marion fehlt weiterhin jede Spur. Liebe Grüße Rosenblüte |
17.07.2014, 00:53 | #7 |
Danke für den Einblick in die Gegenwart der Personen.
Das Gedicht erinnert mich an ein Ferienkinderheim anno 1962; ich war neun und sollte dort dicker werden. Einmal pro Woche war Wechseln der Unterwäsche erlaubt. Einmal pro Woche Duschen und da wuschen uns nackten Jungen die "Tanten" die Haare. Wie ein Dreijähriger musste ich Mittagsschlaf machen, und da ich im Schlafsaal Rundküssen organisierte, zur Beschämung auf dem Mädchenklo sitzen. Ich hatte schließlich an Gewicht verloren. LG g |
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17.07.2014, 12:47 | #8 |
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Lieber gummibaum,
ach, es gäbe noch so viel zu erzählen über das Mädchenheim. Z.B. über die Prüderie: Wir hatten im Waschraum jede unser eigenes Waschbecken, die einzelnen Kabinen waren durch Vorhänge getrennt, damit wir uns bloß nichts "abgucken" konnten. Meine Mutter schickte mir Tampons, die konfisziert wurden, weil sie als unanständig galten. Mit Anke bin ich mal weggelaufen. Sie kam danach in die Psychiatrie, ich wurde aufs Gesundheitsamt geschleppt, wo ich inmitten von Prostituierten auf die Untersuchung warten musste. Briefe wurden beschlagnahmt, ich konnte meine Schule nicht weitermachen, wir arbeiteten unbezahlt und unversichert, und wer die Arbeit verweigerte, wurde vom Arzt in die Psychiatrie eingewiesen. Wir saßen hinter Gittern wegen nichts. Meine Eltern hatten mich frei erzogen, doch das passte der kleinstädtischen und kleingeistigen Gesellschaft damals nicht in den Kram. Die einzigen Lichtblicke: Die Freundschaften unter uns Mädchen, die gut sortierte Bibliothek, die theologischen Gespräche, die ich mit Prof. Dr. Dr. Hasenfuß nach den Gottesdiensten führen durfte und die Faschingsbälle mit den Klosterschülern. Die Zustände, die du schilderst, verursachen heute ebenfalls ein Kopfschütteln. Auch ich wurde als Fünfjährige mal zur Erholung geschickt. Das Heimweh machte mich zur Bettnässerin, was streng bestraft wurde. Lieben Gruß Rosenblüte |
17.07.2014, 13:45 | #9 |
Das passt genau dazu. Zum Glück hat sich viel geändert.
LG gummibaum |
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20.07.2014, 14:56 | #10 | |
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Zitat:
Von Anke hatte ich erfahren, dass es einen Fonds gibt, der Entschädigungen zahlt, z.B. für die entgangenen Rentenversicherungsbeiträge. Die Entschädigungen können noch bis Ende diesen Jahres beantragt werden. Habe vor einigen Wochen einen Antrag gestellt, aber keine Antwort erhalten. Die zögerliche Bearbeitung soll beabsichtigt sein. Werde nachhaken. Lieben Gruß Rosenblüte |
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