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24.09.2012, 22:43 | #1 |
Im Zug
Im Zug
Als ich diesen Freitag mit dem Zug nach S. fuhr, setzte sich in V. eine etwa 55-jährige Dame zu mir. Irgendetwas störte mich an ihr. Ich weiss nicht ob der Hund in ihrer Handtasche, ihre Klein-Mädchen Kleidung, ihre aufgespritzten Lippen, die Tonne Make-Up welches an ihrem Gesicht klebte, ihre komplexe Frisur, ihr amüsantes Benehmen oder das französischsprachige Klatschheft in ihren Fingern daran schuld war, aber jedenfalls war ich insgeheim froh, dass sie keine Begleitperson bei sich hatte. Denn ich fragte mich, wie schlimm es wohl sein müsste, wenn man als Mann, kurz vor und wahrscheinlich auch während der Pensionierung, mit einer noch geistig pubertären Oma, die in ihrer Traumwelt von vor 40 Jahren stecken geblieben ist, zusammenleben muss. Vermutlich steht diese Dame noch jeden Morgen zwei Stunden vor ihrem pink umrahmten Barbie-Spiegel um ihre Lippen zu bemalen und ihre Falten mit einer Bräunungscreme zu füllen. Wenn sie dann den Spiegel zurück in ihr Gucci-Täschchen steckt, zieht sie wohl ihr Hündchen aus demselbigen um ihm mit ihren angeschwollenen Lippen ebenfalls etwas Farbe auf die Stirn zu drücken. Anschliessend geht sie noch zum Kiosk um sich ihr Klatschheft des Vertrauens zu besorgen, damit sie auch weiss, ob jetzt Justin Bieber tatsächlich ein Mädchen oder doch ein Zwitter sei, wie sie sich kleiden soll, und überhaupt was sie diese Woche so zu tun und lassen hat. Die Reise führt dann weiter in ihr Lieblings-Tea-Room wo sie sich dann zu Teenager-Mädchen setzt um mit ihnen über den neusten Klatsch zu diskutieren. Sie wird wohl denken, dass dies ihre Freundinnen wären, doch die Mädchen wiederum denken da wahrscheinlich ganz anders. Sobald sie dann ihr Tea-Room verlässt geht die alltägliche Reise weiter ins Shoppingcenter wo sie dann das Geld ihres Mannes in Kleidung für überdimensional wachsende 7-Jährige, Theaterschminke, Hundefellpflegeshampoo und nebenbei etwas zu essen investiert. Sobald sie dann abends völlig erschöpft von ihrem harten Tag zurückkehrt kocht sie für ihren Mann etwas in der Mikrowelle. Anschliessend geht es dann ab ins Bettchen, um am nächsten Tag für das alltägliche Abenteuer gewappnet zu sein, denn vielleicht führt sie ihr spannendes, unabhängiges und sinnvolles Leben morgen sogar zum Frisör. Als ich dann den Gedankengang zu Ende geführt hatte, schaute ich sie nochmals kurz an, da hörte ich ein etwas komisches Geräusch. Sie hörte es auch. Sie schaute ihr kleines hechelndes Hündchen an, zog es aus der Tasche, rümpfte die Nase und lief mit der Tasche zur Toilette. Das süsse kleine Hündchen hatte wohl sein Revierchen markiert. Ich schaute aus dem Fenster, grinste etwas dämlich und genoss die schöne Natur die an mir vorbeizog. |
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24.09.2012, 23:49 | #2 |
Dabei seit: 09/2012
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Alter: 56
Beiträge: 562
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Hallo, NuclearWinter,
ein interessanter Text. Hier treten in gewisser Weise zwei "Welten" gegeneinander an: Nonkonformität contra Schubladendenker. Den Protagonisten sehe ich als einen typischen "Schublader". Er "ordnet" die ältere Frau sofort, alleine aufgrund ihres Aussehens (schön: das Klischee vom Hündchen in der Tasche) in eine ganz bestimmte Schublade ein. Und er weiß schon beim Anblick genau, wer sie ist, was sie macht, wie sie lebt - einschließlich der Tatsache, dass sie ganz sicher nicht kocht und ihr Mann sich mit einem Fertigmenü aus der Mikrowelle abfinden muss. Er lässt in seiner "Vorstellung" auch kaum ein Klischee aus. Denn: Er kann nicht wissen, wie sie ist oder was sie macht - oder warum sie so "aufgemacht" ist, wie sie es ist - aber er weiß es natürlich. Vielleicht ist es auch ihre persönliche Art von "Rebellion", vielleicht "übertreibt" sie absichtlich, um es denjenigen zu zeigen, die darauf bestehen, dass eine ältere Frau nur in grau, schwarz und dunkelbraun herumlaufen darf, ungeschminkt, höchstens ein Hauch von Lippenstift (rosa, bitte) sei gestattet? Gehört ihr das "Hündchen in der Tasche" wirklich mit absoluter Sicherheit selbst oder hatte sie es die letzten Wochen für eine Freundin in Pflege (welche den Hund immer in der Tasche herumtrug, weshalb der Hund jetzt verhaltensgestört ist und sie die Tasche benutzen "muss"), und sie ist gerade unterwegs, um ihn zurückzubringen? Vielleicht ist sie nur exzentrisch? Vielleicht ist sie eine leidenschaftliche Köchin und verwöhnt ihren Mann täglich mit feinsten Menüs? Gar nicht verheiratet? Einsam? Oder so, wie der Protagonist sie sieht? Ja - wer weiß? Da ich Schubladen beim besten Willen nicht leiden kann (und jede, bei der ich mich ertappe, sofort heftigst "bekämpfe", denn bei mir selbst mag ich die "dämlichen" Dinger schon gar nicht), kann ich nur sagen: Das hier ist ein Mensch, bei dem ich in einem Gespräch sicher die "geistigen Augen" nach oben verdrehen würde ... Ich würde lediglich noch ein paar vergessene Kommata nachtragen. Hat mir gefallen, gerne gelesen. Freundlichen Gruß, Poetibus |
25.09.2012, 18:16 | #3 |
Danke für diesen sehr treffenden Kommentar
ich werd versuchen die fehlenden Kommas nachzutragen, danke für den Hinweis lg NuclearWinter |
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