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Smart phones and stupid people
"So, und jetzt die Tassen hochhalten", dirigiert Benny seine drei Statisten "und schaut ein bisschen fröhlicher - vielleicht ein bisschen verrückt! Aber möglichst natürlich." Ja, natürlich ist wichtig. Authentizität ist eine Tugend in der virtuellen Gesellschaft - das hat Benny begriffen. Um dies zu unterstreichen, hält er das Smartphone exakt 12° nach links geneigt. Nun, er hat nicht nachgemessen und um ehrlich zu sein, weiß nur der omnisciente Erzähler, dass es exakt 12° sind, aber er hat die Erfahrung gemacht, dass dies der Winkel der Spontaneität ist. Wenn er nun noch genau den richtigen Anteil des Glühweinstandes an der linken oberen Ecke einfangen kann, verspricht dies, ein perfekt unvollkommenes Bild zu werden. Davon darf freilich nicht zu viel zu sehen sein, denn sonst sieht es nicht wie ein Versehen aus. Dennoch muss genug davon erkennbar sein, dass man die Präsenz eines Glühweinstandes im Hintergrund erschließen kann.
Mit sanftem, fast zärtlichen Druck auf die Glasoberfläche hält er die drei in seinem Gerät gefangen wie in der Geisterfalle bei Ghostbusters. Kurz bewundert Benny sein Meisterwerk, für das ihm bereits ein vorläufiger Titel im Kopf herumspukt: "Die drei Zipfelmützen". Als der Bildschirm nach unten aus seinem Blickfeld verschwindet, erkennt er das Duplikat der drei Zipfelmützen - zumindest fast: ihre Position hat sich nicht geändert, aber nun führen sie ihre Gläser zum Mund. Die Blicke wirken unaufgeregt und führen über den Tassenrand hinaus ins gemeinsame Nichts. Sichtlich zufrieden trottet Benny zurück an den Stehtisch, legt den Arm um Melly und zeigt seinen Freunden das Bild. "Seht ihr? Das seid ihr", hört Yvonne ihn denken, doch sie schaut sich das Bild an und täuscht Begeisterung vor. "Die Zipfelmützen! Wir sehen aus!", lacht sich ein Gedanke aus Ollies Gemeinschaftssinn hervor. Melly belohnt Benny für seine aufopfernde Geste mit einem Kuss und schiebt ihm seine Tasse zu.
"Jedenfalls finde ich, dass man nicht die Arbeitslosen gegen die Flüchtlinge ausspielen sollte, so sehr ich auch Verständnis...", setzt Ollie ein Gespräch fort, das sogleich im kosmischen Hintergrundrauschen versandet, als Benny sich erneut seinem Smartphone zuwendet. Bedächtig streichelt er es, schlägt ihm wohl gemeint auf die Finger, wenn es einen Fehler macht, liest aus seinen Augen und fühlt sich in seinen Gedanken zuhause. Nach wenigen aparten Handbewegungen entlastet Benny sein Gedächtnis und verschiebt einen Ausschnitt seines Lebens aus seinem Bewusstsein in das Internet, jenes unbewusste, allwissende Wesen, von dem wir alle ein Teil sind - der Gott, den wir erschaffen haben und der uns täglich aus sich heraus erschafft.
"...Oder wie siehst du das Benny?", fragt eine Stimme jenseits des Internets. "Sorry. Hab gerade nicht aufgepasst", gesteht Benny ein. Wobei - es klingt nicht nach einem Geständnis, sondern nach einer Feststellung. "Hast du das Foto eben etwa online gestellt?", fragt Yvonne besorgt. Da Benny überhaupt nichts mit der Frage anfangen kann (denn wozu sonst schießt man ein Foto?), sieht er sie nur überfordert an. Yvonne setzt fort: "Bitte lösche das Foto! Ich möchte nicht im Internet zu sehen sein." "Wieso nicht?", fragt Benny irritiert. "Lass das mal meine Sorge sein! Lösch du bitte einfach das Foto. Dann ist alles in Ordnung." "Ja gut, ich verstehe nur nicht, warum." "Das musst du auch nicht verstehen, aber ich habe kein Interesse daran, dass sieben Milliarden fremde Menschen mich dabei beobachten, wie ich mit einer albernen Mütze auf dem Kopf auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein trinke." "Schon gut, schon gut", antwortet Bennys Sinn für soziale Erwünschtheit. Er gibt sein Bestes, seine Haltung zu verberegen, Yvonne sei ein schwieriger Mensch, während er, beschwichtigende Stimmen im Hintergrund, den Titel des Bildes eintippt: "Die drei Zipfelmützen" Schließlich blendet er das Bild aus: "So - gelöscht!" Er legt das Telefon auf den Tisch und erwartet das wohlige Schnurren.
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